Sie werden "Vergewaltigungs-Drogen" genannt und machen Opfer nach heimlicher Verabreichung willenlos, manipulierbar oder führen zu einem kompletten Blackout: K.o.-Tropfen.
Weil sich die Betroffenen nach dem Erwachen häufig nicht mehr an den sexuellen Übergriff oder den Tathergang erinnern können, gestaltet sich ein strafrechtlicher Nachweis der Tat oft schwierig. Ein Albtraum für die Opfer, denen nicht nur Erinnerungen, sondern auch Selbstbestimmung über den eigenen Körper genommen wird.
Mit "Was ihr nicht seht" greift der "Tatort" aus Dresden (Sonntag, 20.15 Uhr, ARD) dieses höchst sensible Thema eindrücklich und schmerzhaft auf: Vergewaltigung unter dem Einfluss von K.-o.Mitteln. Wir haben mit Lena Stahl, der Regisseurin des Films, über den Film gesprochen.
Eine junge Frau erwacht orientierungslos und benommen. In ihrer Hand hält sie ein Messer, neben ihr liegt ihr Partner – erstochen. Weisen zunächst alle Spuren auf eine Beziehungstat hin, ändert das Ergebnis der forensischen Untersuchungen plötzlich alles: Denn im Blut der Frau lassen sich K.-o.-Tropfen nachweisen. Ist die mutmaßliche Täterin also ein Opfer?
Mit einem intensiven und verstörenden Fall zeigt der Dresdner "Tatort" am Sonntag eine Inszenierung von Hilflosigkeit, Flashbacks, Angstattacken und der bitteren Suche nach der Wahrheit inmitten des Verlusts von Erinnerungen. Ein Film, der die Opfer-Perspektive einer Frau widerspiegelt – und von einer Frau erzählt wird.
Stahl: "Was ihr nicht seht" sollte "aus der Frauen-Perspektive erzählt werden"
Mit ihrem Film "Mein Sohn" lieferte Lena Stahl 2021 ein eindringliches Drama in Top-Besetzung (unter anderem
Unter der Prämisse, mit den Co-Autoren Peter Dommaschk und Ralf Leuther an dem Drehbuch mitzuschreiben, sei die Zusammenarbeit dann gestartet – mit Erfolg. Denn "Was ihr nicht seht" zeigt in eindringlicher Form, wie sich ein Täter an Körper und Seele einer Frau vergreift.
"Ich wollte eine noch modernere, radikalere Erzählweise und eine emotional packende Geschichte innerhalb des Crime-Plots erzählen", gewährt Lena Stahl Einblick in ihre Arbeit an dem Film. Für die 44-Jährige sei dabei "die Idee, eine zentrale Figur zu haben, von der man lange nicht weiß, ob sie Opfer oder Täterin ist", der wesentliche Faktor gewesen.
Für Stahl sei "Was ihr nicht seht" außerdem ein Film gewesen, "der aus der Frauen-Perspektive erzählt werden muss und Thriller-Elemente haben sollte". Ein wichtiger Plot für die Drehbuchautorin: "Die Figuren durften meines Erachtens auf keinen Fall in einer Opfer-Rolle verharren."
Fokus auf Freundschaft zwischen Kommissarin und Tatverdächtiger
Auch die Beziehung der Charaktere untereinander spielt im Dresdner "Tatort" eine wegweisende Rolle. Denn die Verdächtige Sarah Monet (Deniz Orta) und Kommissarin Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) kennen sich. Monet war einst die Partnerin von Winklers verstorbenem Bruder – eine private Verbindung, die die Ermittlerin aus Sicht von Kommissariatsleiter Peter Michael Schnabel (
Es war der Drehbuchautorin somit ein Anliegen, "die Idee mit der Freundschaft zwischen der Tatverdächtigen und der Kommissarin konsequent zu vertiefen", erklärt Stahl und nimmt in diesem Zusammenhang Bezug auf ein neues Gesicht im Dresdner Ermittlungsteam: "Den jungen Staatsanwalt Jakob Klasen (Timur Isik) habe ich dazuerfunden, weil ich es spannend fand, im Ensemble einen modernen männlichen Kontrapunkt zu Brambachs Schnabel zu setzen, der ein konservativer Traditionalist ist. Umso mehr freue ich mich, dass der MDR die Figur Klasen fortführen will."
Vor allem das Zusammenspiel zwischen dem selbstbestimmten, weiblichen Ermittlerinnen-Duo Gorniak/Winkler und dem traditionell denkenden Kommissariatsleiter Schnabel macht den "Tatort" aus Dresden seit jeher aus – eine Rollenkonstellation, die Drehbuchautorin Stahl "grundsätzlich sehr gut dargestellt" findet.
"Dieses Frau-Mann-Gefüge kann man nicht wegreden, weil es das gibt – gerade auch bei der Polizei", betont die in Berlin geborene Autorin, ehe sie auf die männliche Rolle Martin Brambachs eingeht, der privat natürlich anders sei als Schnabel. Umso spannender sei es für den 56-Jährigen, "diese Figur zu spielen, weil sie zu einem Diskurs anregt. Manchmal macht Schnabel den Macker, manchmal zeigt er seine sehr liebevolle Seite und seinen Respekt vor seinen Kolleginnen. In diesem Film wird er diesbezüglich einmal mehr auf eine harte Probe gestellt."
Nur wenige Übergriffe durch K.-o.-Tropfen werden zur Anzeige gebracht
Es ist der brutale Blick auf die Realität, der vor Augen führt, dass immer wieder Menschen Opfer von sexualisierter Gewalt durch K.-o.-Tropfen werden. Eine Erkenntnis, die auch Lena Stahl im Rahmen der Recherche für das Drehbuch von "Was ihr nicht seht" machen musste: "Ich habe viele Erfahrungsberichte lesen und tatsächlich in meinem Freundeskreis mit zwei Personen sprechen können, denen so etwas passiert ist – sowohl weiblich als auch männlich.
Es ist unfassbar erschreckend, wie häufig dieses Thema vorkommt", ordnet sie ein. Umso bewusster ist Stahl, dass viele Opfer die Tat nicht zur Anzeige bringen, "weil sie mit Blick auf K.o.-Mittel oft gar nicht wissen, ob und was eigentlich genau passiert ist." Zudem seien sie sich im Klaren darüber, wie schwierig es ist, das Verbrechen zu einem Verfahren zu bringen.
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Vor diesem Hintergrund sei Stahl eine Szene ganz besonders wichtig gewesen – nämlich jene, in der eines der Opfer (Zoë Valks) über die Tat spricht. "Ich habe im Vorfeld mit Zoë das Gespräch gesucht und dabei erfahren, dass auch sie in ihrem Freundeskreis jemanden kennt, dem Ähnliches widerfahren ist. Insofern konnten wir aus realen Erfahrungen schöpfen – leider!”
Warum der Dresdner "Tatort" uns alle etwas angeht – Männer wie Frauen
Wie kommt es zu ungesühnter Gewalt an Frauen, sexualisierten Übergriffen und wie gehen die Überlebenden damit um? Diese Fragen stellt Lena Stahl sich auch über die Arbeit am Dresdner "Tatort" hinaus. Die Antworten, die sie findet, sind beängstigend. Denn in "der Anonymität des Internets gibt es inzwischen sogar Bewegungen wie die Incel-Subkultur, die einfach nur grauenhaft ist", sagt sie.
Als das Schlimmste empfinde die Autorin, die seit 2022 Mitglied der Deutschen Filmakademie ist, die Tatsache, "dass es Männer gibt, die offenbar mit der offenen Selbstbestimmtheit von Frauen ein solches Problem haben, dass es in blanken Hass umschlägt. Es scheint diese Männer so zu verunsichern, dass sie ihre körperliche Überlegenheit oder eine so perfide Gewalt wie K.o.-Tropfen anwenden müssen, um ihre Machtposition zurückzuerlangen. Für unsere Gesellschaft ist das ein wahnsinnig beunruhigendes Bild."
Insofern gehe der "Tatort" alle etwas an – Männer wie Frauen, findet Stahl. Nichtsdestotrotz sei sie während der Dreharbeiten gefragt worden, ob es sich bei dem Fall aus Dresden eher um einen "Frauenfilm" handele – eine Frage, die sie irritiert habe. Denn die Männerfiguren, die Lena Stahl – abgesehen von dem Täter – in dem Film erzähle, "sind genauso starke Figuren wie die Frauen, auch wenn sie nicht in der ersten Reihe stehen.
Auch sie gehen in den Diskurs und sind von der Tat ebenso geschockt wie die Frauen." Insofern sei es genauso wichtig, kluge und differenzierte Männerfiguren zu erzählen, sagt Stahl und ergänzt: "Abgesehen davon, gibt es schließlich unzählige 'Männer'-Tatorte, die niemals explizit als 'Männerfilme' besprochen werden würden."
Eine Feststellung, die die Drehbuchautorin eine nachdenkliche Bilanz ziehen lässt: "Auch wenn dahingehend schon einiges passiert, befinden wir uns noch lange nicht in einem Zustand, in dem wir von Gleichberechtigung sprechen können."
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