Traumatisiert durch K.-o.-Tropfen: Starke Darstellerinnen machen "Was ihr nicht seht" zu einem eindrücklichen Drama.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Iris Alanyali dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Eine der stärksten Szenen in diesem "Tatort" hat mit dem eigentlichen Fall nur indirekt zu tun. Eine junge Frau sitzt in einem abgedunkelten Raum und erzählt den Kommissarinnen von einem Erlebnis, das ihr Leben verändert hat. (Keine Sorge: Es handelt sich hier nicht um einen Spoiler.)

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Wir kennen die Frau nicht und werden sie auch später nicht mehr treffen. Ihre Erinnerung dauert nur wenige Minuten. Aber was sie sagt, ist von einer Eindrücklichkeit, die das Thema von "Was ihr nicht seht" so schmerzhaft spürbar macht wie nur wenige andere Momente in diesem intensiven Kriminalfilm.

Vergewaltigung mithilfe von K.-o.-Tropfen

Eines Nachts, erzählt Nina (ein großartig gespielter Monolog von Darstellerin Zoe Valks), fehlten ihr ein paar Stunden. Sie lag in ihrem Bett, sie trug ihr Nachthemd, aber irgendetwas stimmte nicht. Eine Woche später kam es zu einer allergische Reaktion: Vom Gleitmittel eines Kondoms, benutzt für einen Geschlechtsverkehr, an den sie keine Erinnerung hatte.

Ein Mann hat sich an ihr vergriffen. Ohne ihre Einwilligung, ohne ihr Beisein. Mit der Hilfe von K.-o.-Tropfen. Hat sich ihren Körper genommen und damit einen Teil ihrer Seele zerstört. "Er muss mich gewaschen haben", fängt Nina an zu weinen. "Er hatte keine Spuren hinterlassen." Nina kann kaum weiterreden. "Außer ... außer ... in mir."

Ist Sarah Monet vielleicht etwas Ähnliches passiert? Mit ihrem Fall haben es die Dresdner "Tatort"- Kommissarinnen Karin Gorniak (Karin Hanczewski) und Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) in "Was ihr nicht seht" zu tun. Die Künstlerin war alleine tanzen und wacht am nächsten Morgen blutverschmiert in ihrem Bett auf. Neben ihr ihr toter Freund David. Erstochen.

Sarah wird abgeführt. Sie ist die Hauptverdächtige. Sie könne sich an nichts erinnern, sagt sie und verfolgt ungläubig den bürokratischen Handlungsablauf ihrer Festnahme: Handschellen, Fingerabdrücke, das Verhör, die Gefängniszelle. Als stünde sie neben sich.

Für Kommissariatsleiter Peter Michael Schnabel (Martin Brambach) ist die Sache klar: ein Mord unter dem Einfluss von Alkohol und wahrscheinlich anderer Drogen. Auch Karin Gorniak hat ihre Zweifel an Sarahs Version, zumal sich herausstellt, dass Sarah kurz zuvor von einer Affäre ihres Freundes erfahren und die andere Frau attackiert hat.

Die Perfidität des Verbrechens

Nur Kollegin Leonie Winkler verfolgt das Geschehen fast ebenso ungläubig wie die Verdächtige selbst: Sarah Monet ist eine alte Bekannte, sie war die Freundin von Leonies verstorbenem Bruder. Leonie Winkler ist von ihrer Unschuld überzeugt. Aber Sarah tut nichts zu ihrer eigenen Verteidigung.

Das Problem ist: Sarah kann nichts tun. Nicht nur kann sie sich nicht erinnern, sie hat noch nicht einmal die Kontrolle über sich und ihren Körper wiedererlangt. Etwas schlummert in ihr, das mit Gewalt an die Oberfläche will. Sarah ist traumatisiert, und es liegt an der Perfidität des Verbrechens, dass das Trauma sie nicht entlastet, sondern alles nur noch schlimmer zu machen scheint. Weil Sarah immer wieder unvermittelt um sich schlägt. Weil sie auf Leonies Hilfsversuche mit Aggression reagiert.

Erst als endlich der Bericht mit Sarahs Blutuntersuchung aus dem Labor kommt, ändert sich die Lage: In Sarahs Blut wurden K.-o.-Tropfen gefunden. Hat David sie ihr verabreicht? War der Mord ein Notfall?

Schnörkellose Dialoge und klarer Erzählstrang

"Was ihr nicht seht" ist ein Kriminalfilm, dessen Titel genau das beschreibt, worum es hier geht: Von dem, was die anderen, die nicht in Sarahs Körper stecken, nicht sehen. Und ihr deshalb nicht glauben. Aber dem Fernsehpublikum wird die verzweifelte Lage eindrücklich klargemacht: Durch ein ökonomisches Drehbuch voll schnörkelloser Dialoge (Peter Dommaschk und Ralf Luther), wodurch der Erzählstrang auf das Notwendigste beschränkt und die volle Konzentration auf Sarahs Situation ermöglicht wird.

Eine Konzentration, von der sich auch Regisseurin und Co-Autorin Lena Stahl leiten lässt. Und Kaspar Kavens Kamera verleiht "Was ihr nicht seht" eine herausragende Bildsprache. Flashbacks und Nahaufnahmen stellen immer wieder Sarahs Perspektive in den Mittelpunkt.

"Tatort"-Fans dürften sich an die Kieler Episoden mit Kommissar Borowski und dem "stillen Gast" erinnern: die geradezu legendären Fälle mit Lars Eidinger als psychopathischem Frauenmörder. Aber "Was ihr nicht seht" könnte unterschiedlicher nicht sein: Es ging den Beteiligten dieses "Tatort" gerade darum, beim Publikum keine schaurige Faszination für die Psyche eines interessanten Täters hervorzukitzeln. Hier geht es einzig und allein um die Personen, die eigentlich im Mittelpunkt stehen müssen: die Opfer.

Zu wenig emotionale Anteilnahme

Von dem Nachteil aber, den diese Herangehensweise mit sich bringt, kann sich "Was ihr nicht seht" trotz seiner Qualität nicht befreien: Wenn die Opfer "Menschen wie du und ich" sind, sind sie mitunter auch so mäßig interessant wie du und ich. Deniz Orta ist als verwirrte Sarah Monet hervorragend, sie spielt eine zutiefst verletzte, zugleich starke Frau, aber ein wirkliche, emotionale Anteilnahme kommt nicht zustande.

Dafür wird dem Publikum zu wenig über Sarah erzählt. Wer war sie vor der Nacht, die alles verändert hat? Auch ihre Freundschaft zu Leonie Winkler wird zwar behauptet, aber nicht nachvollziehbar gemacht. Die volle Konzentration auf ihr Trauma erschwert die Identifikation – vielleicht gerade, weil sich in Deniz Ortas ausdrucksstarkem Gesicht das ganze Drama stumm abspielt. Was wir nicht sehen, ist, wer Sarah Monet sonst noch ist.

Trotzdem ist "Was ihr nicht seht" ein filmisch eindrucksvoller "Tatort", der mit einem dramatischen Finale überrascht und zeigt, dass es möglich ist, die Opfer eines Verbrechens in den Mittelpunkt zu stellen, ohne zum Betroffenheitsfilm zu geraten.

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