Kommissar Berg flucht und Kollegin Tobler ist dauerempört: "Ad Acta" regt sich mit badischer Behäbigkeit über die Tücken des Gesetzes auf.
Manchmal kann ein "Tatort" noch so wichtige moralische Fragen erörtern, und im Gedächtnis bleibt doch ein eher triviales, aber unterhaltsames Detail. "Ad Acta" zum Beispiel erzählt vom Ohnmachtsgefühl, das Kommissare und Kommissarinnen mitunter befällt. Weil sie das Gefühl haben, immer zu spät, zu langsam zu sein, eingeschränkt und zurückgehalten von Bürokratie, Formalitäten und Hierarchien.
Der Schwarzwälder "Tatort" erzählt vom Dilemma, dass Recht nicht immer Gerechtigkeit bedeutet. Dass die Strafprozessordnung und der "gesunde Menschenverstand" sich mitunter zu widersprechen scheinen.
Badische Aktenheftung
Aber was von "Ad Acta" vor allem im Gedächtnis bleiben wird, ist wahrscheinlich die badische Aktenheftung. Schon mal davon gehört? "Tatort" gucken bildet: Kommissarin Franziska Tobler (
Statt von rostenden Heftklammern oder sperrigen Ordnern wird der speziell gelochte Papierstapel nur von einer speziellen Aktenschnur zusammengehalten, die wiederum mit einem speziellen Aktenknoten verknotet wurde. Eine Methode, die aus dem 19. Jahrhundert stammt und erst langsam mit der Digitalisierung ausstirbt.
Wer ein bisschen im Internet nachforscht, trifft auf zahlreiche Zeugnisse genervter Juristen und Bürokräfte, weil badisch geheftete Akten so umständlich auseinanderzunehmen sind. Und irgendwie hat auch "Ad Acta" viel von badischer Aktenheftung.
Der Anwalt, "ein Drecksack vor dem Herrn"
Kanzleichef Rainer Benzinger ist ein Anwalt, der als personifizierter Gesetzestext durch die Welt geht: Justitia ist in diesem Fall nicht blind, sondern vor allem wortkarg, stoisch, unnahbar. Selbst als sein Stiefsohn und Mitarbeiter – "Nicht Partner"! – Tobias erschossen wird, ist Rainer Benzinger nichts anzumerken. "Die Welt dreht sich leider weiter."
Er geht zur Arbeit wie immer. Er orientiert sich an Fakten. Er verlangt Gerichtsbeschlüsse, statt die Polizei bei der Aufklärung freiwillig zu unterstützen. Rainer Benzinger ist einer, der sich grundsätzlich im Recht fühlt, weil er mit dem Recht so vertraut ist wie mit sonst nichts und niemanden.
Tobias scheint eine andere Sorte Anwalt gewesen zu sein. Offenbar haderte er mit den Geschäftspraktiken seines Stiefvaters. Denn Rainer Benzinger ist bekannt für seine dubiose Klientel: Rechtsradikale, organisiertes Verbrechen, Klans. Seine Verteidigung führte vor Gericht außerdem verdächtig oft zum Erfolg.
Als eines Abends auch auf Rainer Benzinger geschossen wird und er erneut ungerührt zur Tagesordnung übergeht, platzt Kommissar Friedemann Berg (Hans-Jochen Wagner) der Kragen: Dieser Anwalt sei "ein Drecksack vor dem Herrn", der so viele zwielichtige Gestalten verteidigt habe, dass er gar nicht mehr wisse, wer da auf ihn geschossen haben könnte.
Toblers kranker Vater und Bergs dunkles Geheimnis
Bergs mundartliche Ausbrüche häufen sich in dem Maße, in dem die Frustration über die scheinbare Unantastbarkeit von Benzingers Geschäftsmodell wächst. Sie gehören zu den menschlichen und menschelnden Szenen, mit denen Regisseur Rudi Gaul und Drehbuchautor Bernd Lange das trockene Thema ihres Falles aufzulockern versuchen.
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Dazu gehört auch die Bekanntschaft, die das Fernsehpublikum mit Franziska Toblers krebskrankem Vater Bruno (Michael Hanemann) machen darf: Ein altmodischer, aber engagierter ehemaliger Polizist, der Franziskas Karriere vorantreiben will und einen mysteriösen Groll gegen Friedemann Berg hegt. Ein vielversprechender Vorgeschmack auf eine kommende Schwarzwälder "Tatort"-Folge, in der Berg es mit der eigenen Verwandtschaft zu tun bekommt und Bruno Tobler ihm erneut im Nacken sitzt.
Ein gut angezogener Aktenordner
In "Ad Acta" hilft Bruno Tobler aber erst einmal seiner Tochter dabei, Mordmotive aufzuspüren, die in der Vergangenheit liegen. Denn es scheint naheliegend, Täter im Umfeld der Kanzlei zu suchen.
Aber wie kommt man an einen wie Rainer Benzinger heran? August Zirner spielt ihn hervorragend, mit perfekt austarierter Teilnahmslosigkeit. Das ist kein teuflisches Superhirn, sondern ein gut angezogener Aktenordner, an dem jegliche emotionale Reaktion abprallt. Was Franziska Toblers aufrechte Empörung immer wieder ins Leere laufen lässt.
Überhaupt ist Franziska Tobler in diesem Fall dauerempört. Denn auch Richterin Stefanie Wirtz (Theresa Berlage), die bei Benzingers Fällen den Vorsitz führt, zuckt nur mit den Schultern. Nein, es gehe bei Gerichtsverhandlungen nicht um die Suche nach Gerechtigkeit, widerspricht sie der Kommissarin: "Das schaffen wir nicht." Angestrebt werde lediglich "Schadensausgleich".
Beleidigtes Berufsgejammer
Es liegt in der Natur dieses Falles, dass viel geredet wird. "Ad Acta" ist ein Akten- und kein Action-Krimi. Aber mit einer weniger spießigen Bildsprache und einer spitzeren Feder hätte man ihm mehr Spannung verleihen können. Stattdessen wirkt der Plot so konstruiert wie die vielen Frust-Gespräche auf dem Kommissariat und die zahlreichen Einerseits-und-Andererseits-Dialoge.
Alles ordnet sich der Botschaft unter – und die hat die Eleganz von Paragraphenüberschriften: Wer sich an die Regeln hält, ist im Nachteil. Das Rechtssystem belohnt die Bösen. Bürokratie nervt. Aber Plattitüden brauchen phantasievolle Alternativen oder kraftvolle Gegenargumente, um zu Denkanstößen zu werden. Sonst kommen sie wie in diesem "Tatort" nur als beleidigtes Berufsgejammer daher.
Hier tut nichts wirklich weh, macht nichts wirklich wütend. Behäbig geht es einem versöhnlichen Ende entgegen, mit dem dann noch schnell bewiesen werden muss, dass sich sogar in gesetzlichem Rahmen Wege finden lassen, die Welt ein klein wenig gerechter zu machen. Eine Auflösung, so triumphal wie die badische Aktenheftung.
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