- Bei der Paralympics-Berichterstattung kommt es immer noch zu problematischen und diskriminierenden Formulierungen.
- Die zwölfmalige Paralympics-Siegerin Verena Bentele bemängelt, die Berichterstattung sei noch nicht frei von Vorurteilen.
- Im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt sie, was sich ändern muss.
Verena Bentele saß auf der Couch ihrer Großeltern und schaute sich die Paralympics an. Eine einstündige Zusammenfassung wurde damals gezeigt, vor 24 Jahren.
1998 war sie gerade zurück aus Nagano, wo die damalige Biathletin und Skilangläuferin ihre ersten vier Medaillen geholt hatte. "Das war schon extrem wenig Berichterstattung, da kommt heute deutlich mehr", sagte die zwölfmalige Paralympics-Siegerin im Gespräch mit unserer Redaktion.
Bei den Spielen in Peking in diesem Jahr sind es bei ARD und ZDF weniger als die Hälfte der 65 Stunden von 2018, viel wird im Internet gezeigt. Trotzdem: "Dass auch in den großen Nachrichtensendungen darüber berichtet wird, ist gut, um ein breites Publikum zu erreichen", sagt Bentele, die heute unter anderem Vizepräsidentin des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) ist.
Gut gemeint ist nicht gut gemacht
Was sich ihrer Meinung nach auch verbessert hat, ist die Sprache, "denn die Berichterstattung hat nicht mehr so oft die Ausrichtung, dass jemand 'trotz' seiner Behinderung etwas erreicht hat", so Bentele.
Was in erster Linie wohl gut gemeint ist, ist leider meist nicht gut gemacht, denn das vermeintliche Kompliment ist Ableismus, was sich aus dem englischen Wort "able" (= fähig sein) und der Endung "-ismus" zusammensetzt. Damit wird die Auf- oder Abwertung von Menschen mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung aufgrund ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten beschrieben. Eine Diskriminierung, um es auf den Punkt zu bringen.
Die Journalistin Sandra Olbrich hat in einem Tweet die Berichterstattung rund um die Paralympics als "schwer zu ertragen" beschrieben und ein konkretes Beispiel genannt. "Es hagelt wieder Diagnosen und eine blinde Biathletin sei 'sehbehindert' aber 'pfiffig'. Das Wording zeigt, wir kommen nicht voran", schrieb sie.
Bentele gefällt die genannte Aussage "natürlich auch nicht. Was soll pfiffig überhaupt? Und dies mit den Augen in Verbindung zu bringen, ist total sinnlos", sagt sie. Sie halte aber auch nichts davon, auf die Berichterstattung draufzuhauen, betonte sie.
"Es gibt sehr viele Journalisten, die sich richtig Mühe geben, aber die Berichterstattung ist natürlich noch nicht so frei von Vorurteilen, wie wir uns das wünschen würden. Trotzdem ist es wichtig, dass überhaupt berichtet wird, die Konsequenz darf nicht sein, dass nicht mehr berichtet wird, weil alle Angst haben, sich die Finger zu verbrennen", stellt sie klar.
Immer wieder "Trotz"-Bewertungen
Sie hat diese "Trotz"-Bewertungen im Laufe ihrer Karriere selbst oft genug erlebt. Sie hat es genervt, wenn es hieß, sie habe ihre Erfolge trotz ihrer Blindheit errungen. "Es wurde immer zum Thema gemacht", sagt sie. Auf der Skala der Peinlichkeiten war aber oft auch noch Luft nach oben.
"Besonders schlimm wurde es, wenn dann noch deprimierende Klaviermusik eingespielt wurde. Diese Betroffenheits-Berichterstattung ist sehr ärgerlich, weil es keinen Grund für Betroffenheit gibt", sagte sie. Stattdessen könnte man bei diesen 'Trotz-Fragen' genauso gut zurückfragen: "Wie schafft man es, obwohl man keine Behinderung hat, gar keinen Sport zu machen? Wir müssen unser Leben permanent erklären. Ich würde mir wünschen, dass die Kommunikation 'normaler' und vorurteilsfreier wird. Denn diese Frage impliziert ja, dass Menschen glauben, Biathlon ohne zu sehen wäre unmöglich", so Bentele. Weniger Vorurteile, dafür mehr Interesse an den Hintergründen und Fragen à la "Wie machst du das?" wären schon mal ein Anfang.
Das Problem ist durchaus verbreitet. Liz Johnson, paralympische Goldmedaillengewinnerin im Schwimmen und Behindertenaktivistin, kritisierte bei "Psychology Today" eine überhöhende Berichterstattung. Sie betont, Paralympioniken seien Athleten und wollen nicht als Helden bezeichnet werden.
"Diese Geschichten werden so interpretiert, dass die Paralympioniken als Helden dargestellt werden, die 'die Widrigkeiten besiegt' oder 'dem Glauben getrotzt' haben. Dies ist sowohl für die Athleten als auch für die Behindertengemeinschaft im Allgemeinen schädlich", sagte sie.
Journalisten nicht so tief im Thema
Doch woran liegt es, dass Formulierungen immer noch problematisch, diskriminierend oder verletzend sind? "Es ist besser geworden", betont Bentele, "aber das Grundproblem ist, dass die Journalisten nicht so tief im Thema sind, für sie ist paralympische Berichterstattung noch nicht die Normalität. Das ist oft Unsicherheit, sie sind selbst oft noch ein wenig überrascht davon, welche Hilfsmittel genutzt werden und mit welcher Behinderung welche Leistungen erbracht werden." Dass es noch keine Selbstverständlichkeit ist, merke man dann auch am Sprachgebrauch, so Bentele.
Die 40-Jährige erklärt es anschaulich anhand des Beispiels König Fußball. Journalisten seien keine Leistungssportler, die Welt sei ihnen eigentlich fremd, so Bentele, "sie berichten aber beim Fußball trotzdem teilweise so, als seien sie selbst Nationalspieler gewesen", sagt sie. Bei der Paralympics-Berichterstattung merke man aber sehr deutlich, "dass sie mit der Welt der paralympischen Athleten nicht vertraut sind", so die 40-Jährige.
Um die Situation zu verbessern, sind auch die Medien gefordert. "Wenn weltweit jeder Siebte eine Behinderung hat, warum sehen wir das nicht in Medien oder Filmen?", fragte Andrew Parsons, Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees: "Wir denken, dass Menschen mit Behinderung oft vergessen werden. Und die Paralympics sollen Aufmerksamkeit für diese Probleme schaffen. Wir wollen über Steuergesetze sprechen, auch über Mobilität und Infrastruktur. Der Sport kann zu einer inklusiveren Welt beitragen."
Mehr und regelmäßiger
Deshalb wünscht sich Bentele mehr und eine regelmäßigere Berichterstattung, denn das würde wiederum die Berichterstattung "extrem verändern", glaubt sie. "Denn", so Bentele, "bei Themen, die noch nicht so vertraut sind, neigen viele Menschen dazu, mit den eigenen Vorurteilen und Rollenbildern an die Sache heranzugehen, und nicht immer mit der Offenheit, die man sich wünschen würde". Die Reflexion der eigenen Arbeit sollte bei Journalisten Standard sein, ist bei dem Thema aber offenbar ausbaufähig.
Das ist aber nicht alles. "Im deutschen Fernsehen gibt es nach wie vor kaum Moderatorinnen und Moderatoren mit einer sichtbaren Behinderung. Das muss sich ändern. Diversität ist kein Nice-to-have, sondern erfordert ein radikales Umdenken auf allen Ebenen", schreibt Olbrich auf ihrer Homepage.
Bentele stimmt zu. "Wenn mehr Journalisten zudem schon mal in dem Feld gearbeitet haben oder wenn mehr Menschen mit Behinderung als Journalisten arbeiten, wäre das hilfreich", sagt sie.
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Auch gesellschaftlich müssen sich Dinge ändern, ein weiterer Schlüssel sei das gemeinsame Aufwachsen, der gemeinsame Schulbesuch, um Vorurteile viel früher abzubauen, so Bentele: "Da Menschen mit und ohne Behinderung immer noch nicht ganz selbstverständlich nebeneinander aufwachsen, ist es für viele ein Buch mit sieben Siegeln." Das man nur gemeinsam "entschlüsseln" kann – auch durch eine vorurteilsfreie Berichterstattung.
Verwendete Quellen:
- sandraolbrich.de
- psychologytoday.com: What the Paralympics Can Teach Us About Ableism in Sports
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