- Heike Henkel dominierte Anfang der 90er Jahre die Hochsprungszene, wurde Olympiasiegerin, Welt- und Europameisterin.
- Kurz vor Ende der Olympischen Spiele 2021 in Tokio analysiert sie das deutsche Abschneiden.
- Sie kritisiert das deutsche Sportsystem und übt Kritik an Eltern.
Frau Henkel, die Olympischen Spiele 2021 in Tokio sind vorbei. Wie bewerten Sie das deutsche Abschneiden?
Heike Henkel: Wir hatten ein paar Medaillen-Hoffnungen, die sich nicht erfüllt haben. Aber das ist immer so. Wenn man das Gesamtbild betrachtet, liegt das nicht an der vermeintlichen Unfähigkeit der Athleten: Gerade in der Leichtathletik ist die Vielfalt an unterschiedlichen Nationen, die inzwischen Leistung bringen, sehr groß. Es gibt kaum noch ein Land, das im Gegensatz zu früher vorneweg marschiert. Im Sprint über 100 Meter zum Beispiel hat nun der Italiener Lamont Marcell Jacobs gewonnen. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass wir nicht mehr nur gegen zwei, drei Nationen um Medaillen antreten. Insgesamt freut es mich aber, welche Leistungen von den Athleten trotz der Umstände der Coronakrise erzielt wurden. Vielleicht waren wir in der Vergangenheit auch verwöhnt mit Medaillen und guten Platzierungen.
Deutschland hat bei den Olympischen Spielen so wenig Medaillen wie noch nie seit der Wiedervereinigung geholt. In Peking 2008 waren es beim Medaillen-Tief 41. Nun stehen wir bei lediglich 37. Auch gewinnen wir inzwischen weniger Gold. Das kann nicht nur mit der zunehmenden Leistungsdichte begründet werden.
Mit Sicherheit fehlt uns auch die Breite an Athleten. Es kommen immer weniger junge Sportler im Hochleistungssport an. Die Felder bei den Jugendmannschaften werden immer kleiner. Dies macht es dann auch schwieriger, Athleten zu entwickeln, die im Hochleistungssport ihren Weg gehen. Unser Sportsystem ist nicht professionell genug. Es gibt zwar gute Modelle, die eine duale Karriere – also zwischen Sport und Beruf – ermöglichen, aber der Sport alleine reicht nicht aus, um international ganz vorne mitmischen zu können. Das ist aber auch eine Geldfrage. Und wenn die im Vordergrund steht, müssen wir uns nun mal damit zufriedengeben, dass unsere Medaillen-Ausbeute nicht so ausfällt, wie wir uns es erträumen.
Fehlt jungen Sportlerinnen und Sportlern die Perspektive, sich für den Hochleistungssport aufzuopfern?
Ja, deswegen entscheiden sich viele junge Sportler für einen Beruf oder eine Ausbildung. Ein Athlet, der viele Jahre in den Sport investiert, darf nicht nach der Karriere ohne berufliche Perspektive dastehen. Bei der Versorgung nach der Karriere könnte mehr passieren.
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Ist der Stellenwert des Sports in Deutschland nicht hoch genug?
Ja. Und es sind viele Faktoren, die dabei eine Rolle spielen. In den USA zum Beispiel werden unglaublich viele Sportler über das College akquiriert. In Kolumbien wird ein Sportler als Held gefeiert, wenn er mit einer Medaille zurückkommt. Und in Deutschland wird man immer noch schief angeguckt, wenn man Leistungssport macht. Dabei hat der Leistungssport auch eine Vorbildfunktion – nur wird diese bei uns verkannt. Wenn wir Hochleistungssport und Medaillen wollen, dann muss Deutschland mehr dafür tun.
Wenn Sie die Möglichkeit hätten, an einer Stellschraube zu drehen, um dem Negativtrend entgegenzuwirken, welche wäre das?
Ich habe das Gefühl, dass bei der Basis in Deutschland zu wenig passiert - an den Schulen. Es sollte bereits aktiv an den Schulen losgehen, zu gucken, ob es Talente gibt, ob Kinder für Sportarten begeistert werden können. Die Kooperation zwischen Vereinen und Schulen sollte mehr gefördert werden. Es ist aber auch klar, dass es Kinder und Jugendliche geben muss, die Lust auf Wettkämpfe und Leistung haben. Vielleicht ist auch inzwischen der Leistungsdruck, der über die Jahre in der Schule und im Berufsleben gestiegen ist, im Sport zusätzlich zu hoch. Mit der Zeit ist auch die Konkurrenz Computer hinzugekommen. Heute sitzen viele Kinder lieber vor dem Bildschirm, als sich zu bewegen. Meine Freizeit hat sich viel im Verein und in den Trainingsgruppen abgespielt, heute gibt es unendlich viele Alternativen. Wir müssen aktiver dahin wirken, Kinder zu bewegen oder in den Verein zu bringen.
Sie gewannen 1992 in Barcelona die Gold-Medaille. Wenn Sie zurückblicken, würden Sie sagen, es lief früher besser in Sachen Nachwuchsarbeit?
Ich weiß nicht, ob es früher besser lief oder einfacher. Aber wir sind früher einfach in Sportvereine eingetreten, ohne im Vorfeld zu wissen, ob es auch die richtige Sportart für uns war. Es war egal, ob es sich dabei um einen Turn- oder Fußballverein handelte. Heute suchen Eltern bereits vor dem Eintritt in den Verein nach der richtigen Sportart für ihr Kind, anstatt den Nachwuchs einfach mal anzumelden und ausprobieren zu lassen.
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