Mareike Miller hofft bei den Paralympics auf ihre dritte Medaille im Rollstuhlbasketball. Die Athletensprecherin erklärt im Interview die Faszination des Sports, spricht aber auch über Spitzensportförderung, Probleme des Parasports und ihre eigene Karriere.
Frau Miller, was reizt Sie am Job der Athletensprecherin?
Mareike Miller: Ich bin davon überzeugt, dass es grundsätzlich wichtig ist, dass es Athletensprecherinnen und -sprecher gibt, die die Interessen der Sportlerinnen und Sportler vertreten, an vielen Ecken und Enden mitdenken und ihre Erfahrungen entsprechend einbringen. Ich bin inzwischen relativ lange dabei, habe mir in all den Jahren ein gewisses Wissen angeeignet und viel erlebt.
Dadurch stehe ich mit vielen Athletinnen und Athleten in Kontakt. All das ermöglicht mir einen umfassenden Blick auf viele relevante Punkte. Ich bin froh, dass ich es mir im Moment zeitlich erlauben kann, die Einblicke entsprechend zu nutzen und bestmöglich dafür zu sorgen, dass die Erfahrungen aller Athletinnen und Athleten an den richtigen Stellen mit eingebracht werden.
Sportlern und Sportlerinnen eine Stimme geben
Wie oft kommen Athleten auf Sie zu, vielleicht auch, um sich mal auszukotzen?
Es ist eher die Ausnahme, dass Athletinnen oder Athleten explizit um Einzelgespräche bitten. Häufiger kommt es rund um Wettkämpfe oder Veranstaltungen zum Austausch – und das wirklich sehr regelmäßig und zu diversen Themen. Aber meine Kolleginnen und Kollegen wissen, dass ich immer ein offenes Ohr habe und mir ihre Anliegen wichtig sind.
Sie sind auch Präsidiumsmitglied bei Athleten Deutschland. Wie viel kann man als Sportler in dem ganzen System tatsächlich bewirken?
Das ist nicht ganz einfach zu beantworten, aber natürlich ist die Voraussetzung, dass wir daran glauben, etwas bewirken zu können. Als Teil eines Arbeitsgremiums bietet sich beispielsweise immer wieder Gelegenheit, zielführende Ansätze und Ideen zu entwickeln. Bei Athleten Deutschland ist es unser oberstes Anliegen, die Bedingungen für Athletinnen und Athleten zu optimieren. Wir möchten Sportlerinnen und Sportlern nicht nur eine Stimme geben, sondern auch für ihre Rechte einstehen und ihnen eine Perspektive schaffen.
Die Anliegen der Athletinnen und Athleten und damit unsere Arbeit sind dabei ganz vielfältig. Das gesamte Team hat ein offenes Ohr und unterstützt bei Streitigkeiten mit dem Verband, bei rechtlichen Anliegen oder sportpolitischen Punkten. Außerdem gibt es die integrierte Beratungsstelle Anlauf gegen Gewalt, die ihre Expertise bei Fällen von sexualisierter oder auch psychischer Gewalt einsetzt.
Wenn man an deutsche Bürokratie und Verbände denkt, denkt man vor allem an Unbeweglichkeit. Ist die Realität so frustrierend, wie man es befürchtet? Oder ist es besser geworden?
Manche Sachen gehen schneller, manche nicht so schnell. Und das hat Vor- und Nachteile. Es ist auf jeden Fall notwendig, eine gewisse Struktur zu haben, damit Athletinnen und Athleten von Planungssicherheit profitieren. Da denke ich an Themen wie Kadernominierungen bzw. -zugehörigkeit, an soziale und materielle Absicherung, aber auch an Trainingsbedingungen und Systeme bei den Olympiastützpunkten. Wenn das bedeutet, dass manche Dinge langfristig, vielleicht mehrjährig geplant werden, ist das so. Der Sport stellt hier keine Ausnahme dar, ist mit der Gesamtstruktur und damit mit allem vergleichbar, was man so aus Deutschland kennt.
Miller sieht eine Aufbruchstimmung im Land
Im Moment ist viel zu tun, die Spitzensportförderung ist schon vor längerer Zeit in den Fokus gerückt. Wie sehen Sie den Status Quo?
Wir spüren im Rahmen der Spitzensportreform und dem Bestreben des Gesetzgebers, den Leistungssport mit allen Facetten gesetzlich zu regeln, eine Aufbruchstimmung im Land. Olympia, Paralympics und eine mögliche Bewerbung für die Austragung der Wettkämpfe in Deutschland tragen ihren Teil dazu bei. Das neue Sportfördergesetz hat das Potenzial, die Gesamtstruktur zu verbessern – beispielsweise die Förderung. Diesbezüglich finde ich es richtig, dass die Entscheider mit Bedacht vorgehen.
Im selben Atemzug muss auch geklärt werden, welchen Stellenwert der Sport in unserer Gesellschaft hat, was er erreichen und leisten soll. Geht es um möglichst viele Medaillen? Oder ist es wichtig, welche Strahlkraft der Sport insgesamt hat? Geht es um Bewegung? Um Gesundheit? Wir reden aber von Prozessen, von Entwicklungen. Von heute auf morgen kann der Schalter nicht umgelegt werden. Aber ich bin froh, dass solche Themen erkannt werden und sich Veränderungen anbahnen.
Gibt es denn Ansätze, bei denen Sie sagen, dass die mit Priorität angegangen werden sollten?
Für mich persönlich gibt es zwei Dinge, die ich nennen würde. Das eine ist die Leidenschaft, die Motivation für den Sport in unserer Gesellschaft. Ich glaube, der Stellenwert des Sports ist viel zu gering. Dass Sport in Schulen immer weniger stattfindet, dass Kinder gar nicht damit aufwachsen, sportlich zu sein. Womit es schwieriger wird, Kinder für den Leistungssport zu begeistern und dementsprechend die Talente zum Sport zu führen.
Und das andere ist die Präsenz des Parasports. Ich verstehe bis heute nicht, warum Parasport nicht Teil des Schulsports ist. Die Idee des Schulsports ist es schließlich, dass man im Laufe seiner Schulzeit alle möglichen Sportarten ausprobiert. Warum da im Lehrplan keine Behindertensportart Platz findet – das passt für mich nicht zur heutigen Zeit. Denn es gibt viele Sportarten, die mit einfachen Mitteln umzusetzen sind. Damit verpasst man es, dem Parasport mehr Wahrnehmung zu schenken und ein Bewusstsein zu schaffen für Menschen mit Behinderung.
Viele Sportler und Experten monieren, dass es ein gesellschaftliches Problem geworden sei, dass der Stellenwert des Sports so gesunken sei. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Wir waren noch nie eine Sportnation. Ich habe sechs Jahre in den USA gelebt. Dort ist der Sport ein natürlicher Teil des Lebens, und das war er bei uns noch nie. Natürlich haben früher die Kinder mehr draußen gespielt, sich mehr bewegt und hatten noch keinen Computer oder kein Handy. Aber der Sport, vor allem der organisierte Sport in Schulen, in Vereinen, war und ist kein fester Bestandteil unserer gesellschaftlichen Strukturen. Ich glaube, dass dieser so wichtige Bereich von allen Seiten vernachlässigt wird.
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Rollstuhlbasketball: Schubfehler statt Schrittfehler
Sie haben gesagt, beim Parasport müsste mehr im Schulsport getan werden. Wie viel Nachholbedarf besteht da?
Wir haben noch viel, viel Nachholbedarf. Die Vereine engagieren sich zwar, aber das reicht nicht aus und ersetzt zum Beispiel nicht die bereits angesprochene Möglichkeit, verschiedene Sportarten und Parasport in den Lehrplan zu integrieren. Dass die Kinder mal erleben, dass man mit Hilfsmitteln viel machen kann. Es ist so, dass in Deutschland die breite Masse, wenn sie Rollstuhlbasketball hört, immer noch an Rehasport denkt. Sehr viele wissen gar nicht, was das eigentlich für eine hochdynamische Leistungssportart ist, inklusive einer professionellen Bundesliga.
Rollstuhlbasketball ist eine der populärsten Sportarten im Behindertensport. Was ist so faszinierend daran?
Die Faszination besteht vor allem in der Geschwindigkeit, die wir in einem Sportrollstuhl entfalten können. Viele können sich das gar nicht vorstellen, aber auf dem Court geht es richtig zur Sache. Es ist nicht so, dass sich die Sportlerinnen und Sportler im Rollstuhl einfach ein bisschen bewegen möchten. Sie gehen mit Motivation und Tempo in die Duelle, sodass es ab und an auch mal kracht.
Was sind die Unterschiede zum Fußgängerbasketball?
Es gibt zwei Regelunterschiede: Statt Schrittfehler gibt es bei uns einen Schubfehler. Außerdem dürfen wir nicht ins Doppeldribbling, also den Ball nicht dribbeln, mit beiden Händen aufnehmen und wieder losdribbeln. Ansonsten ist alles ziemlich identisch, auch wenn wir beispielsweise keinen Schritt zur Seite machen können. Wir können nicht einfach kurz ausweichen oder um andere herumfahren, dafür ist es aber leichter, den Weg zu versperren. So wird das Spiel strategischer. Zusammen erfordert das eine entsprechende Athletik.
Sie kennen ja beides. Was ist denn herausfordernder?
Rollstuhlbasketball wird mit einem Sportgerät mehr absolviert und unterscheidet sich hier schon, aber natürlich liegen die Vergleiche auf der Hand. Während man beim Laufen auf die Sprungkraft setzt und die Arme nur für die Bewegung und das Gefühl sorgen, holt man bei uns alles aus dem Oberkörper, alles aus der Armkraft, sowohl beim Fahren als auch beim Werfen. Für all die koordinativen Herausforderungen bräuchten wir eigentlich drei Hände.
Sie selbst sind bereits Paralympics-Siegerin, haben auch Silber geholt, blicken auf eine erfolgreiche Karriere im Rollstuhlbasketball. Sie hatten sich in jungen Jahren vier Kreuzbandrisse zugezogen. Wie schwierig war es, sich von der möglichen Profikarriere zu verabschieden?
Ich hatte den ersten Kreuzbandriss schon mit 14 Jahren. Ich hatte zwar von einer Profikarriere geträumt, aber in dem Alter war es noch nicht so, dass sie unmittelbar bevorstand. Mit jeder Verletzung sind meine Chancen geschwunden. Dennoch war es ein krasser Moment, als mir ein Arzt gesagt hat, dass mein Ersatzteillager sozusagen bald leer ist. Ich wollte nicht aufgeben, aber ich brauchte diesen Weckruf. Es war kein riesiger Schock mehr, trotzdem musste ich Pläne wie ein Sportmanagement-Studium an der Deutschen Sporthochschule verwerfen. Ich musste viel umdenken, zum Glück hatte ich dazu einen Moment Zeit und habe meinen Weg gefunden.
Wie sind Sie dann zum Rollstuhlbasketball gekommen?
Ich habe nach meinem zweiten Kreuzbandriss die Möglichkeit gehabt, in der Schule erstmals Rollstuhlbasketball auszuprobieren. Danach hat es aber noch gedauert, ich habe nach meinem Basketball-Aus erst einmal ein Jahr lang im Jugendbasketball gecoacht. Mir ist dann aber schnell klargeworden, dass es mir nicht reicht, nur an der Seitenlinie zu stehen. Und dann fiel mir der Rollstuhlbasketball wieder ein.
Im Alltag sind Sie nicht auf einen Rollstuhl angewiesen. Wie läuft das mit der Klassifizierung in der Sportart genau ab?
Ich habe im Sport eine sogenannte Minimalbehinderung. Ich erfülle nach der Einreichung meiner medizinischen Unterlagen und einer klinischen Untersuchung die Minimumkriterien, um Rollstuhlbasketball spielen zu können. In unserer Sportart können etwa ein Drittel der Aktiven gehen. Im Alltag gehen zu können, ist kein Ausschlusskriterium. Es gibt ganz unterschiedliche Arten von Einschränkungen, die dafür sorgen, dass man mit seinen Beinen keinen Leistungssport betreiben, aber dennoch gehen kann.
Nun stehen Sie nach einem Spiel einfach auf, während andere Spielerinnen den Rollstuhl wechseln. Was macht das mit Ihnen und inwiefern hilft das beim Thema Inklusion?
Ich nehme noch stärker wahr, wie glücklich ich mich schätzen kann, dass ich zwar auch im Alltag immer mal wieder Probleme mit meinen Knien habe, aber trotzdem noch gehen kann. Es gibt viele Situationen, in denen es mindestens unpraktisch ist, im Rollstuhl zu sitzen, in denen man einfach froh sein kann, dass man es an vielen Stellen leichter hat. Was ich wegen der Inklusion besonders gut finde: Dass bei uns im Freizeitbereich bzw. im nationalen Spielbetrieb auch Menschen ohne irgendwelche Einschränkung spielen können.
Das führt dazu, dass das eine oder andere Schulkind, das im Rollstuhl sitzt, trotzdem mit seiner Mitschülerin trainieren kann, weil sich beide in den Rollstuhl setzen und drauflos spielen können. Ich habe einen Mitspieler, der zu dem Sport gekommen ist, weil sein Vater verunfallt ist und er dann wollte, dass er aktiv bleibt, sich bewegt und ihn dann dazu motiviert hat, zusammen zum Rollstuhlbasketball zu gehen. Das sind einfach schöne Situationen, die es in kaum einer anderen Sportart so gibt.
Das nächste Ziel: Eine Medaille
Zuletzt wurden die deutschen Rollstuhlbasketballerinnen in Tokio Vierte. Was ist das Ziel in Paris?
Das Ziel ist eine Medaille. Der Wettbewerb ist aber so eng wie noch nie. Das Teilnehmerfeld wurde gekürzt und die acht Mannschaften, die jetzt teilnehmen, mussten sich zu 100 Prozent rein sportlich qualifizieren. Frankreich als Gastgeber hat das zum Beispiel nicht geschafft und nimmt nicht teil. Wir haben die Niederlande und USA in der Gruppe, beide gehören zum Favoritenkreis um die Goldmedaille. Viel wird auf die Turnierform ankommen – vor allem ab dem Viertelfinale, das alle Teams nach dem Turniermodus erreichen. Wir möchten ein gutes Turnier hinlegen, die engen Spiele für uns entscheiden. Deswegen ist es unser Ziel, eine Medaille zu gewinnen.
Sie waren in Paris bei den Olympischen Spielen vor Ort. Was haben Sie mitgenommen von den Spielen, die ja im Grunde nur positive Kritiken erhalten haben?
Ich hoffe, dass die Arenen bei uns ähnlich voll sind. Ich war bei den Teamsport-Events und beim Kanu vor Ort, die Stimmung war richtig gut! Die DJs haben das mit ihrer Musik unterstützt. Ich hoffe, dass auch bei uns die Atmosphäre entsprechend rüberkommt und die Begeisterung für den Sport da ist, um dieses große Fest genießen zu können.
Und für den Parasport hoffe ich, dass wir wieder einen riesigen Schritt machen, was die Wahrnehmung für den Leistungssport von Menschen mit Behinderung angeht. Da hat auch Deutschland noch Nachholbedarf. Es wäre schön, wenn die vielen Fernsehübertragungen dazu beitragen, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer mehr über Parasport erfahren, Dinge entdecken und begreifen, warum jeder Sport, egal mit welchem Equipment, so sehenswert ist.
Über die Gesprächspartnerin
- Mareike Miller ist Kapitänin der deutschen Rollstuhlbasketball-Nationalmannschaft. Zu den bisherigen Höhepunkten ihrer erfolgreichen Karriere zählen der Gewinn der paralympischen Goldmedaille in London 2012 sowie der Gewinn der Silbermedaille bei den Paralympics 2016 in Rio de Janeiro. Daneben ist sie nicht nur Athletensprecherin des Deutschen Behindertensportverbandes, sondern auch Präsidiumsmitglied bei Athleten Deutschland.
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