Immer mehr Sport-Stars vertreten öffentlich ihre unbequeme Meinung, Protagonisten wie Megan Rapinoe oder Colin Kaepernick werden damit zu Ikonen. Deutschland und dort ganz speziell der Fußballbereich hat diesbezüglich noch Nachholbedarf.

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Es ist ein schmaler Grat zwischen Selbstbewusstsein und Arroganz, zwischen substanzieller Kritik und reiner Selbstdarstellung. Es gibt die Diskussionen darüber, was gesellschaftspolitische Themen mit Sport zu tun haben sollen, ob die Probleme unserer Zeit in die Stadien und Hallen und Courts und Pisten gehören. Dort, wo doch der Sport zu Hause ist und die Zuschauer gerade auch Ablenkung und Abstand suchen.

DFB-Elf: Der Hort der Ja-Sager

Seit der Sport in den Äther gejagt wird, hat sich das Bild seiner Protagonisten verändert. Erst das Radio, dann der Fernseher und später das Internet wirkten und wirken wie Multiplikatoren, die Vermarktung der Sportereignisse hat den Markt rasend umgekrempelt, mit allen erfreulichen wie unerfreulichen Begleiterscheinungen.

Eine davon ist, dass sich kaum ein wichtiger Sportler noch etwas zu sagen traut - so ist jedenfalls die einhellige Meinung und auf die Masse verteilt, stimmt das natürlich auch.

Wo viel Interesse ist, da ist auch viel Geld im Umlauf. Und wenn es um den großen Reibach geht, dann hält der eine oder andere eben gerne die Füße still und den Mund geschlossen. Nicht umsonst ist die wichtigste Mannschaft in deutschen Landen seit gefühlten Ewigkeiten abgestempelt als Hort der Ja-Sager und Abnicker.

In die deutsche Fußball-Nationalmannschaft kämen nur jene Spieler, die immer brav auf Linie blieben und sich aus allem anderem als ihrem Job heraushielten - sagten diejenigen, die es nicht in die Mannschaft schafften oder nur in eine Nebenrolle schlüpfen durften. Aus der Defensive lässt sich schließlich leichter austeilen, es gibt ja nicht zu viel zu verlieren.

Keine Stellungnahme zu Erdogan-Gate

Überhaupt ist es im Fußball aber so, dass zumindest in Deutschland kaum noch eine Kultur des offenen, gesprochenen Wortes gepflegt wird. In den drei höchsten Spielklassen gibt es kaum Spieler, die sich zu Themen außerhalb der Fußballblase äußern wollen oder können. Und falls dann doch einer etwas zu sagen hat, wird es von der entsprechenden Pressestelle chemisch gereinigt und kaputt-autorisiert freigegeben.

Vor einem Jahr, beim Erdogan-Gate der Nationalmannschaft: Nichts, keine kritische Silbe eines Nationalspielers. Stattdessen immer der Verweis auf "den" Sport und "die" Politik und die kategorische Trennung beider Bereiche. Dabei könnten gerade die ganz Großen jede Menge bewirken.

Und jetzt, nach Jahren der Enthaltsamkeit, mischen sich zwischen die Weichspüler und Instagram-Sternchen auch wieder andere, die einen unbequemen und unangepassten Weg einschlagen.

Nicht unbedingt solche wie Zlatan Ibrahimovic, die im Zweifel dann doch eher den eigenen Status zementieren wollen. Und vielleicht auch nicht, ein paar Nummern kleiner, Martin Hinteregger. Der hatte mit seiner öffentlichen Kritik am eigenen Trainer den Bruch mit seinem Arbeitgeber herbeigeredet und nun seinen endgültigen Abgang nachhaltig verfolgt.

Kaepernick löste eine Lawine aus

Aber Spieler wie Megan Rapinoe oder zuvor Colin Kaepernick haben Mut bewiesen und Durchhaltevermögen - um einer viel größeren Sache ein Gesicht und eine Stimme zu verleihen. Rapinoe geht es um die Gleichberechtigung und Gleichstellung von Mann und Frau, NFL-Quarterback Kaepernick um die Ungerechtigkeiten in einem offenkundig rassistischen Amerika.

Kaepernick ist - oder besser: war - in der beliebtesten Sportart der US-Amerikaner ein Star und ein Hoffnungsträger, vergleichbar mit Jerome Boateng oder Leroy Sane, gemessen an deutschen Fußball-Standards. Umso bemerkenswerter seine Grandezza und seine Courage, mit der er seine Werte und Ansichten unter die Fans bringen wollte.

"Ich werde mich nicht hinstellen und stolz auf eine Flagge sein, die für ein Land steht, das Schwarze und andersfarbige Menschen unterdrückt. Für mich ist dieses Thema größer als Football und es wäre selbstsüchtig, wenn ich einfach wegschauen würde", erklärte der Spieler damals seinen Kniefall, sobald die Nationalhymne angestimmt wurde.

Der Schneeball wurde zu einer Lawine und fast zu einer Staatsaffäre. Präsident Donald Trump giftete gegen Kaepernick, nannte ihn einen Hurensohn. Barack Obama schaltete sich ein, die Nation war gespalten und: Das wichtige Thema monatelang auf der Tagesordnung.

Horton eifert Fourcade nach

Auch Rapinoe legte sich mit Trump an - oder umgekehrt. Australiens Schwimm-Star Mack Horton wählte es eine Nummer kleiner, attackierte zunächst seinen Kontrahenten Sun Yang, verweigerte die übliche Siegerehrung bei der Schwimm-WM zuletzt und auch den Handschlag mit dem Chinesen.

Yang wurde vor einigen Jahren bereits positiv auf Doping getestet und steht seitdem förmlich unter Dauer-Verdacht. Für Horton gab es eine breite Zustimmung, im Athletendorf wurde der Australier für seine hartnäckige Position gefeiert - vom internationalen Schwimmverband dagegen verwarnt.

Ähnlich verhielt es sich bei Martin Fourcade. Frankreichs bester Biathlet aller Zeiten gilt als Vorkämpfer im Anti-Doping-Kampf und forderte insbesondere nach dem das Staatsdoping in Russland durch den McLaren-Report öffentlich geworden war harte Konsequenzen. Stattdessen durften russische Athleten aber unmittelbar bei der WM 2017 antreten.

Bei der Siegerehrung der Mixed-Staffel kam es zum Eklat, als sich Fourcade und der Russe Anton Schipulin auf dem Podest erst ein Wortgefecht lieferten und der Franzose dann die Zeremonie vorzeitig und unter höhnischem Beifall verließ.

Panarin legt sich mit Putin an

Das ist aber alles nichts gegen das, was Artemi Panarin zuletzt vom Stapel gelassen hat. Panarin ist einer der besten Eishockeyspieler im Hockey-Land Russland und in seiner Wahlheimat USA ein Star der National Hockey League. So einer hält sich in der Regel bedeckt, wenn es um sein Vaterland geht und die Zustände dort. Panarin aber attackierte Wladimir Putin frontal.

"Ich denke, er weiß nicht mehr, was richtig oder falsch ist", sagte der 27-Jährig. "Der Präsident hat so viele Leute, die ihn bei seinen Entscheidungen beeinflussen. Aber wenn ihm diese während 20 Jahren immer sagen, was für ein großer ‚Guy‘ er sei und was für einen guten Job er mache, wird er nie eigene Fehler erkennen." Der Sport und dessen Förderung in Russland konzentriere sich auf Moskau und Putins Geburtsstadt St. Petersburg, "der ganze Rest ist ein Witz."

Und dann wurde Panarin noch schärfer im Ton. "In Russlands Bevölkerung herrscht immer noch der Glaube, wenn man etwas Schlechtes über die Gesellschaft oder die Regierung sage, werde man getötet oder vergiftet. Das darf nicht mehr geschehen", so Panarin. "Wenn in den USA ein Sport-Star schlecht über den US-Präsidenten spricht, passiert ihm nichts. In Russland ist das nicht möglich."

Die Antwort aus dem Kreml steht noch aus, Putins Reaktion wird früher oder später aber kommen. Und sei es nur, Panarin einen Rücktritt aus der Sbornaja ans Herz zu legen. Selbst für die russischen NHL-Stars mit ihren Titeln, Millionen und ihrem Ruhm gibt es nichts Größeres, als für das eigene Land zu spielen.

Artemi Panarin hat diesen Traum in Gefahr gebracht - weil ihm ein stabiles Rückgrat und seine Selbstachtung offenbar wichtiger erschienen. "Klappe halten und Kopf einziehen" stand jedenfalls nicht zur Disposition.

Verwendete Quelle:

  • buzzfeednews.com: "A Russian Hockey Player Actually Spoke Out Against Putin In An Interview"
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