Leroy Sané sucht noch immer nach Sicherheit und Rhythmus und sieht schon wieder Diskussionen um seiner Person auf sich zurollen. Dabei könnte der Bayern-Star in seiner "neuen" Rolle noch eminent wichtig werden für die deutsche Mannschaft.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Stefan Rommel sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die Verteilung der Haupt- und Nebenrollen hat Julian Nagelsmann schon vor einigen Monaten erledigt. Der Bundestrainer wollte in der Vorarbeit auf das EM-Turnier erst gar keine Zweifel aufkommen lassen, wie die Funktion und auch Position eines jeden Spielers während der mehrwöchigen Unternehmung ausschauen würde. Also wies Nagelsmann den Spielern, die damals schon sichere Kaderkandidaten waren, ihre Aufgaben zu.

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Nicht jeder Trainer geht so früh und so offen in die Kommunikation mit seinen Spielern, viele andere halten sich bis zuletzt bedeckt, um den Konkurrenzkampf auf Temperatur und sich selbst das eine oder andere Hintertürchen offenzuhalten.

Bei der deutschen Nationalmannschaft ist das etwas anders, weshalb unter anderem auch Leroy Sané schon sehr früh um seinen Auftrag wusste. Und dass er zumindest in den ersten Spielen des Turniers nicht von Beginn an spielen würde.

Nagelsmann lässt Sané nicht fallen

Als die deutsche Nationalmannschaft im Frühjahr wieder in die Spur fand und mit den Siegen gegen Frankreich und die Niederlande sich selbst und das Land in vorfreudige EM-Stimmung versetzte, war Leroy Sané nicht dabei. Der Spieler fehlte gesperrt, weil er sich bei einem der vielen Tiefpunkte der jüngeren Vergangenheit - beim 0:2 gegen Österreich in Wien - zu einer Tätlichkeit hatte hinreißen lassen. Drei Spiele wurde Sané gesperrt und durfte erst im letzten Testspiel vor der EM gegen Griechenland wieder eingreifen.

Bis dahin hatte er ein halbes Jahr lang kein Länderspiel mehr bestritten und in der Endphase der Saison auch den Bayern kaum noch zur Verfügung gestanden. Eine Schambeinentzündung ließ im April und Mai nur 18 Minuten in der Bundesliga zu. Gespielt hat Sané fast nur noch in der Champions League, in den großen Spielen gegen Arsenal und Real Madrid, und wurde für diese Spezialeinsätze von Trainer Thomas Tuchel im Ligabetrieb geschont.

Sané hat in der Zeit fünf Wochen praktisch nicht trainiert, wurde für die Spiele der Königsklasse aber dann doch irgendwie fit gemacht. Das dokumentierte auch den Stellenwert, den er bei den Bayern besitzt. Und den ihm auch Julian Nagelsmann in der Nationalmannschaft einräumt.

Sanés Problem: Zu viel Aktionismus, zu wenig Klarheit

Zwar sind die Plätze in der deutschen 4-2-3-1- oder 4-2-2-2-Formation in der Offensive an andere Spieler vergeben, die Rolle des wichtigsten Einwechselspielers teilt er sich nach der Gruppenphase aber mit Niclas Füllkrug. Beide wurden bisher dreimal eingewechselt und das auch noch zur jeweils selben Spielminute.

Aber während Mittelstürmer Füllkrug zweimal richtig auffällig wurde und zuletzt gegen die Schweiz sogar entscheidend traf, bleiben Sanés Momente in der Zwischenbilanz auf einem eher überschaubaren Niveau.

Es ist noch nicht das Turnier von Leroy Sané, so viel lässt sich nach dem Ende der Gruppenphase konstatieren. Im Gegenteil wollen einige Beobachter in ihm schon ein deutsches Sorgenkind ausgemacht haben. Sané ist nicht nur noch ohne Tor, er war bisher auch an keinem der acht deutschen Treffer direkt beteiligt.

Seine Aktionen wirkten bisher oft von einer Spur zu viel Aktionismus getrieben, in die knapp bemessenen Spielzeit so viele spektakuläre Aktionen und Torabschlüsse wie möglich zu packen. Sané ist jetzt 28 Jahre alt, nach der Ausbootung im Vorfeld der WM 2018 und den enttäuschenden Turnieren 2021 und 2022 ist diese Heim-Bühne auch für ihn eine sehr große Chance. Der unbedingte Drang, nach den schwierigen letzten Wochen zu viel auf einmal zu wollen, ließ sein Spiel zuletzt etwas verkrampfen.

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Sané und die Aufmerksamkeit

Deshalb ist jetzt auch wieder seine Körpersprache ein öffentliches Thema, das Zögern und Zaudern in Momenten, in denen Tatkraft und Entschlossenheit angebracht wären. Sané kann nicht nur in der Offensive ein überragender Faktor sein, auch im Gegenpressing und beim Rückwärtsverteidigen ist der Münchener einer der besten - wenn er denn auf Sendung ist.

Das war in den EM-Spielen bisher nicht immer der Fall. Im Spiel gegen die Ungarn gab es eine Szene, in der die deutsche Mannschaft über die linke Seite einen Konter initiierte. Maximilian Mittelstädt trieb den Ball die Linie entlang, gegen drei deutsche verteidigten nur noch drei ungarische Spieler. Auf der ballfernen rechten Seite hätte Sané mit einem Sprint eine Überzahlsituation schaffen und sich am zweiten Pfosten im Rücken der Abwehrspieler für einen freien Torschuss anbieten können. Nur: Sané zog den Sprint nicht an, trabte stattdessen durchs Mittelfeld.

An den TV-Geräten war die Szene nicht so klar zu erkennen, weil sich Sané außerhalb des Sichtfelds bewegte. Im Stadion aber erkannten einige Zuschauer sehr wohl, dass hier eine gute Gelegenheit schlicht nicht wahrgenommen wurde. Das Raunen war deutlich zu hören.

Einzigartige Qualitäten

Vielleicht muss man diese kleinen Aussetzer auch einfach einpreisen bei einem Spieler wie Sané, der ja schon in der nächsten Aktion wieder Weltklasse sein kann. Es gehört jedenfalls auch zur Wahrheit, dass er dem deutschen Spiel ein paar Dinge geben kann, die ziemlich einzigartig sind.

Keiner hat mehr Endgeschwindigkeit als Sané, keiner ein besseres Tempodribbling. Und nur wenige einen derart harten wie präzisen Abschluss aus der zweiten Reihe. Sanés Mitspieler und sein Trainer wissen das. Und auch die deutschen Gegner. Eine seiner Qualitäten ist es deshalb auch, immer gleich zwei Gegenspieler auf sich zu ziehen.

Diese permanente Gefahr öffnet in anderen Zonen des Spielfeldes Räume, die die deutsche Mannschaft dann bespielen kann. Das wiederum erkennen nicht alle der lauten oder stillen Beobachter, der wichtigste aber schon. Auch deshalb wird Julian Nagelsmann seinem Immer-mal-wieder-Gamechanger weiter den Rücken stärken.

"Wir haben einen guten Draht zueinander und auch ohne, dass wir zehnmal die Woche sprechen, ein ganz gutes Verständnis. Er ist ein angenehmer Charakter, der gut zu führen ist und nicht aufmuckt", sagte Nagelsmann auf einer Pressekonferenz vor einigen Tagen. Und bekräftigte noch einmal, wie wichtig Sané im weiteren Turnierverlauf noch werden könnte. "Leroy ist ein bedeutender Spieler, der enge Spiele entscheiden kann!"

Sané wartet noch auf seinen Moment

In der K.-o.-Runde ist davon auszugehen, dass das eine oder andere Spiel durchaus eng werden könnte. Vielleicht ja schon am kommenden Samstag das Achtelfinale gegen Dänemark. Bisher hat Sané seinen ganz speziellen EM-Moment noch nicht erlebt.

Als einer der ersten Einwechselspieler wird er seine Chancen darauf aber weiterhin bekommen - zum einen, weil Julian Nagelsmann bisher stets sein Wechselkontingent voll ausgeschöpft hat und zum anderen, weil für die gefühlig-emotionalen Wechsel wie den des Bayern-Spielers Thomas Müller in München oder die der beiden Stuttgarter Chris Führich und Deniz Undav im Neckarstadion nun kein Platz mehr sein wird.

Es liegt an Leroy Sané selbst, den Mittelweg zu finden zwischen Konzentration und einer gewissen Lockerheit. Dann kann er für Deutschland noch zu einer Waffe werden.

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