Die Diskussionen um den VAR werden immer intensiver. Was läuft falsch? Und was muss sich ändern? Wir haben mit zwei Experten gesprochen.
Urs Meier hat es im Grunde schon lange vorher gewusst. Beziehungsweise geahnt. 2014 analysierte der heute 65-Jährige bei der WM in Brasilien als Experte für ZDF-Mann Béla Réthy teilweise im Studio die Spielszenen und arbeitete dabei nur mit den TV-Bildern.
"Und da bin ich ins Schwimmen gekommen. Ich war von meinen eigenen Entscheidungen nicht überzeugt", sagt Meier im Gespräch mit unserer Redaktion. "Und ich wusste: Wenn dieser Videoassistent kommt, werden die genau die gleichen Probleme haben."
VAR-Start in der Bundesliga vor sieben Jahren
Und der Schweizer sollte recht behalten. Zur Saison 2017/18 wurde der Video Assistant Referee (VAR) in der Bundesliga eingeführt. Sieben Jahre nach der Premiere im Fußball-Oberhaus zieht Meier ein äußerst ernüchterndes Fazit, verbunden mit einer Mischung aus Enttäuschung und auch ein bisschen Verzweiflung.
"Der VAR spaltet den deutschen Fußball sehr, er macht den Fußball ein Stück weit kaputt und ist im Grunde gescheitert", sagt Meier. "Der VAR nimmt dem Fußball seinen Reiz, seine Faszination, seine Unberechenbarkeit. Er hat an Attraktivität verloren, an Emotionen. Das ist nicht mehr der Fußball, den ich liebe."
Klare Worte des früheren Weltklasse-Schiedsrichters, dem es auch missfällt, dass heute im Grunde mehr über Schiedsrichterentscheidungen diskutiert wird als vor dem Videoassistenten. "Wir haben genau die gleichen Fehler, die gleichen Schwachstellen", stellt Meier fest. "Deshalb werden die Leute müde, sie glauben nicht mehr an dieses 'VAR-Wunder'. Wenn das ein Produkt in der freien Wirtschaft wäre, wäre es schon längst wieder verschwunden." Eine schonungslose Bestandsaufnahme, die aber einen Nerv trifft.
Vor allem die organisierten Fans sind gegen den VAR, der "nicht zur Dramaturgie und Komplexität des Fußballs" passt, wie Fanforscher Dr. Harald Lange im Gespräch mit unserer Redaktion betont: "Der VAR zielt darauf ab, Unwägbarkeiten in Objektivität zu überführen. Und das ist inkompatibel zur Idee des Spiels."
Deshalb gehört der VAR für ihn "ersatzlos gestrichen". Für viele Anhänger sowieso. Für den VAR sei im Fanherzen kein Platz, weiß Lange. "Der VAR macht das Fußballerlebnis kaputt. Die Ästhetik des Spiels ist gestört. Der Spielverlauf wird durch ein Pseudo-Gerechtigkeitsthema gedehnt, immer wieder unterbrochen."
Der VAR sorgt mitunter für Jubel unter Vorbehalt
Das Schlimmste daran für die Anhänger: Den Fans wird das spontane und uneingeschränkte Jubeln genommen. Früher hat man nach einem Treffer vielleicht noch zum Linienrichter geschaut, und wenn die Fahne unten blieb, durfte die Freude grenzenlos sein. Heute kann es sein, dass Ekstase nach einem Treffer fünf Minuten später nichts mehr wert ist. Fans jubeln mit dem VAR oft nur noch unter Vorbehalt. "Und jubeln unter Vorbehalt ist nichts wert", sagt Lange.
Der Frust bei Fans, Spielern und Verantwortlichen ist inzwischen größer als die Genugtuung, dass es im Kölner Keller 2024 laut eines "Sport Bild"-Berichts 126 korrekte Interventionen des Video-Schiris gab, die zu 123 korrekten finalen Entscheidungen des Referees auf dem Platz führten. Doch nach nur zwei Spieltagen der neuen Saison ist das Klima in der Bundesliga für den frühen Zeitpunkt schon beängstigend stark vergiftet.
Inzwischen ist es sogar schon vorgekommen, dass den Nutznießern der VAR-Entscheidungen selbige unangenehm sind. "Das wird sich immer weiter hochschaukeln", befürchtet Lange.
Lange Mängelliste des VAR
Denn neben den Veränderungen der Emotionen nerven die VAR-Eingriffe durch lange Prüfphasen und weiterhin vorhandene Fehlentscheidungen. Dazu sind die Eingriffe inzwischen teilweise viel zu kleinlich. Sollten früher glasklare Fehlentscheidungen à la Maradonas "Hand Gottes" verhindert werden, werden inzwischen kleine Schubser und ein kurzes Halten so penibel seziert, dass auch geduldigen VAR-Fürsprechern die Argumente ausgehen.
Eine rote Linie ist in einigen Fällen nicht zu erkennen, der Einsatz des Videoassistenten wirkt zu oft willkürlich, uneinheitlich und wenig nachvollziehbar. Eigentlich ein Todesurteil für ein Instrument, das den Fußball in seiner Ursprungsidee gerechter machen soll.
"Wir suchen andauernd nach den kleinsten Fehlern, und das tut dem Fußball nicht gut, und das tut den Schiedsrichtern nicht gut", sagt Meier. Und stellt klar: "Der Fußball ist nicht fehlerfrei." Wobei es vorkommen kann, dass eine Szene nach dem fünften Studium der Bilder und der x-ten Einstellung eine ganz andere Wirkung entfaltet, im schlimmsten Fall eine verzerrte.
Autorität der Schiedsrichter wird gefährdet
Das ganze Konstrukt führt dazu, dass die Autorität der Schiedsrichter gefährdet wird, da diese sich immer mehr auf das "Sicherheitsnetz VAR" verlassen, nicht selten werden sie durch den VAR nicht unterstützt, sondern eher verunsichert. Eine fatale Entwicklung. Doch auch wenn Fans inzwischen sogar schon Petitionen für eine Abschaffung starten, glaubt Lange nicht, dass die Fans so auf die Barrikaden gehen werden, wie sie es bei dem angekündigten Investoreneinstieg getan haben.
Eine Protestwelle könne man noch nicht absehen, sagt er, "aber was auf jeden Fall entstehen wird, ist eine Position, die wir diskutieren müssen in den Fanszenen, eine Position gegenüber diesem Videoassistenten. Und dieser Position können sich die Chefetagen nicht verschließen."
Für Meier gibt es immerhin diverse Faktoren, die die Situation zumindest ein Stück weit verbessern könnten. "Es wurden in den letzten sieben, acht Jahren unglaublich viel Energie und Geld in den VAR reingesteckt. Dabei hat man vergessen, mit den Schiedsrichtern zu arbeiten und das Fußballverständnis zu schulen", sagt Meier.
Francois Letexier als Vorbild
Soll heißen: Die Referees sollen Fußball spielen, sollen sich in die Szenen hineinversetzen können, indem sie die Aktionen nachspielen. Ein Tackling, ein Kopfballduell. "Und dann musst du sie aufnehmen und ihnen die Aufnahmen zeigen. Und dann wird der Aha-Effekt eintreten", glaubt Meier. "Und verdammt nochmal, arbeitet mit ehemaligen Profispielern zusammen, auf allen Positionen. Wenn du das Muster siehst, dann sagst du auf einmal: 'Aha, jetzt sehe ich es auch.' Dann ist es viel einfacher, das zu erkennen."
Denn ein guter Schiedsrichter, und da verweist Meier auf den EM-Finalreferee Francois Letexier, "der übernimmt Verantwortung, der geht den letzten Meter, der geht in die Schnittstellen rein, der rennt, der kämpft für die gute Position, um dann eine Entscheidung zu treffen".
Und diese Art der Spielleitung ist so wichtig, weil das Spiel jemanden braucht, der sich nicht einfach nur auf sein Sicherheitsnetz verlässt, sondern die Chemie auf dem Platz spürt, der konzentriert und präsent ist und die Wahrheit auf dem Platz erkennt, denn die ist oft eine andere als die TV-Wahrheit. "Und so ein Schiedsrichter braucht dann meistens auch nicht so viele VAR-Eingriffe", ist sich Meier sicher.
Handspielregel potenziert das Problem
Wobei die Handspielregel in der Hinsicht noch einmal ein ganz anderes Thema ist, das die VAR-Problematik zusätzlich triggert und das Problem potenziert. "Es gibt immer noch viele Schiedsrichter, die bei der Handspielregel unglaubliche Defizite haben und sie seltsam anwenden", kritisiert Meier. Sein Vorschlag: "Geht wieder auf Feld eins zurück. Geht der Ball zur Hand oder geht die Hand zum Ball? Eigentlich ganz einfach."
Trotz der langen Mängelliste und der tiefgreifenden Kritik wird der VAR wohl ein Teil des Fußballs bleiben. Bei einer Abstimmung der englischen Premier League im Sommer stand eine mögliche Abschaffung nach einem Antrag der Wolverhampton Wanderers auf der Agenda. 14 von 20 Klubs hätten dafür stimmen müssen – 19 waren am Ende gegen eine Abschaffung. Ein deutliches Ergebnis, das Bände spricht.
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Der DFB-Pokal zeigt: Es geht auch ohne VAR
Deutlich wird allerdings auch, dass es ohne VAR geht. In den ersten beiden Runden des DFB-Pokals nämlich. "Und da können es die Schiedsrichter auf einmal, auf einmal sind sie präsent, auf einmal übernehmen sie Verantwortung, auf einmal treffen sie wieder Entscheidungen. Und wir haben wieder einen schönen Fußball", sagt Meier.
Im achten Jahr des VAR hat er deshalb einen Vorschlag, der interessant klingt: "Wir legen den Videoassistenten für ein Jahr auf Eis. Schauen wir einfach mal, wie es dann aussieht", so Meier: "Natürlich höre ich schon wieder die Vereine, die sagen: 'Ja, aber im internationalen Bereich haben wir dann einen Nachteil, wenn wir das nur in der Bundesliga machen.' Ich glaube sogar, es wäre ein Vorteil. Aber einen Versuch wäre es auf jeden Fall wert."
Und Meier lag ja schon 2014 richtig.
Über die Gesprächspartner
- Urs Meier ist ein ehemaliger Schweizer Profi-Schiedsrichter. In seiner Karriere hat er über 880 Spiele geleitet, unter anderem auch bei großen Turnieren wie Welt- und Europameisterschaften. Später war er unter anderem als TV-Experte beim ZDF im Einsatz, heute ist er Schiedsrichter-Experte beim Schweizer Fernsehsender Blue TV sowie Dazn.
- Prof. Dr. Harald Lange ist seit 2009 Professor für Sportwissenschaft an der Universität Würzburg, Gründer des Instituts für Fankultur e.V. und Dozent an der Trainerakademie des DOSB in Köln. Lange hat über 3.000 wissenschaftliche Arbeiten publiziert – davon mehr als 50 Bücher und Sammelwerke.
Verwendete Quellen
- sportbild.bild.de: Videobeweis verhindert 123 Fehlentscheidungen
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