Felix Zwayer wird immer wieder mit seiner Vergangenheit konfrontiert und dabei oft von Ex-Referee Manuel Gräfe attackiert. Die Uefa setzt derweil ein Statement. Wir haben mit Urs Meier über das Thema gesprochen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Reiners sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die türkischen Fans zeigten Felix Zwayer sehr deutlich, was sie von ihm hielten. Beziehungsweise von seinen Entscheidungen im Gruppenspiel gegen Portugal. Sie skandierten das böse H-Wort, das auf "Sohn" endet. Beim Stand von 0:2 kurz vor der Halbzeit war der Frust aus Sicht der Türken nicht einmal unverständlich, dazu ist die Wortwahl im Fußball heutzutage nicht mehr ungewöhnlich. Allerdings war die Kritik unberechtigt: Bis auf ein paar Kleinigkeiten lieferte Zwayer eine gute Leistung ab.

Mehr News zur Fußball-EM

Er bestätigte damit seine Form, bereits bei seinem EM-Debüt beim Spiel Italien gegen Albanien zeigte Zwayer eine weitestgehend fehlerfreie Leistung. "Es waren zwei nicht nur auf dem Papier sehr, sehr schwierige Spiele. Da musst du tatsächlich einen Schiedsrichter reinschmeißen, der damit umgehen kann. Und das hat Felix Zwayer wirklich hervorragend gemacht. Ich habe zwei starke Einsätze von ihm gesehen", sagt der frühere Weltklasse-Schiedsrichter Urs Meier im Gespräch mit unserer Redaktion.

Wettskandal im Lebenslauf

Alles gut also? Nein, denn der Fall Zwayer ist speziell. Der Hintergrund: Zwayer hatte 2005 den Wettskandal um Ex-Schiedsrichter Robert Hoyzer mit ins Rollen gebracht, hatte dessen Manipulationen aber erst mit Verspätung gemeldet. Daneben soll er selbst 300 Euro angenommen haben, was ihm aber nie nachgewiesen werden konnte. Zwayer bestreitet es bis heute, Geld genommen zu haben. Er wurde damals für sechs Monate gesperrt. Die Sperre habe er akzeptiert, um sich ein weiteres Verfahren zu ersparen, erklärte er zuletzt vor zwei Jahren.

Erledigt ist das Thema aber keineswegs. "Dieses Spiel wird als eine große Schande in die glorreiche Geschichte der deutschen Schiedsrichter der letzten Jahrzehnte eingehen", schrieb der frühere Schiedsrichter Manuel Gräfe nach dem Spiel Italien gegen Albanien bei X. Ein Schiedsrichter, der in Spielmanipulation verwickelt gewesen sei "und darüber sechs Monate lang bis zum letzten Moment schwieg", schrieb Gräfe, "der damit weitere Manipulationen ermöglichte, vom eigenen Verband verurteilt wurde, wird von DFB/Uefa (Nulltoleranz bei Spielmanipulationen?!) für die EM nominiert und für dieses Spiel angesetzt".

Gräfes Kritik war massiv, er erklärte, "die Gedanken vieler Schiedsrichter, aber auch sonstiger in dem Business Beteiligter" zu übermitteln.

Nach Zwayers zweitem Einsatz vermied Gräfe die Verbindung zum Wettskandal, kritisierte den 43-Jährigen aber einmal mehr. Bei Zwayer seien es "leider zu viele Fehler" gewesen und sein vermutlich "letzter Einsatz". Weiter schrieb er: "Es war wieder einmal exemplarisch. Zwayer ist nicht der schlechteste, aber sicher auch nicht der beste Bundesliga-Schiedsrichter. Nicht mehr und nicht weniger…"

Urs Meier: "Wäre bei mir nie mehr Schiedsrichter gewesen"

Meier hat zu dem Fall Zwayer eine klare Meinung. Denn hätte er als Chef der Schweizer Spitzenschiedsrichter einen Referee gehabt, der in einen solchen Fall involviert war, "dann wäre der bei mir nie mehr Schiedsrichter gewesen. Nie mehr. Das ist klar." Doch in Deutschland sei der Fall aufgearbeitet worden, betonte Meier, "und damit ist das Ganze erledigt. Und dann muss man nach vorne schauen. Er hat seine Strafe bekommen."

Der DFB äußert sich zu den verbalen Seitenhieben von Gräfe nicht. Natürlich auch, um nicht weiteres Öl ins Feuer zu gießen. Wie man die sozialen Medien kennt, würde das wahrscheinlich zu einer unschönen, vor allem aber sinnlosen Debatte ohne zufriedenstellendes Ergebnis führen. Mit Verlierern auf allen Seiten, was nicht nur an Gräfe, sondern an der generellen Diskussionskultur auf Plattformen wie X liegt.

"Es geht um das Sportliche, er ist von der Uefa nominiert worden und er hat klar gezeigt, dass diese Nominierung gerechtfertigt ist", sagte Alex Feuerherdt, Kommunikationschef der DFB Schiri GmbH, im Gespräch mit unserer Redaktion. "Sportlich hat er wirklich alle Argumente auf seiner Seite."

Zwayer bekomme die Diskussionen mit, konzentriere sich aber komplett auf die EM, so Feuerherdt: "In erster Linie geht es darum, ihn bestmöglich zu schützen." Was auch proaktiv dadurch geschieht, dass die Referees in der Bundesliga ihre Entscheidungen im TV erklären können. Was in einem so emotionalen Sport wie dem Fußball aber nicht die alleinige Lösung für einen respektvolleren Umgang sein kann. Beim DFB wird an weiteren Möglichkeiten gearbeitet.

Dickes Meier-Lob für Zwayer

Meier findet, dass Zwayer im Moment das einzig Richtige tue: "Er antwortet mit Leistungen auf dem Platz." Grundsätzlich hält der Schweizer sowieso große Stücke auf Zwayer, der seit 2004 DFB- und seit 2012 Fifa-Schiedsrichter ist und erstmals als Haupt-Referee für ein großes Turnier nominiert wurde. "Er ist einer, der an sich arbeitet. Er ist einer, der sich weiterentwickeln will. Und ich glaube, er wird noch besser", sagte Meier, der in dem Zusammenhang aber auch den DFB in die Pflicht nimmt, mit den Schiedsrichtern "noch viel intensiver" zu arbeiten.

"Man müsste noch professioneller sein. Dann würde er noch stärker werden", so Meier, der davon ausgeht, dass Zwayer noch besser wird. "Wenn er so weitermacht, wird er in zwei, drei Jahren vielleicht auch noch etwas lockerer. An der Ausstrahlung kann man noch etwas machen", so Meier. Doch Zwayer mache das gut, "er hat eine schwere Zeit hinter sich in den letzten zwei, drei Jahren und ist aus diesem Loch herausgekommen".

Was Meier meint, ist das Spitzenspiel zwischen Borussia Dortmund und dem FC Bayern in der Saison 2021/22. Damals hatte Zwayer fragwürdige Entscheidungen getroffen, und der damalige Dortmunder Jude Bellingham meinte in einem TV-Interview: "Du gibst einem Schiedsrichter, der schon mal Spiele verschoben hat, das größte Spiel in Deutschland. Was erwartest du?" Zwayer berichtete später von Morddrohungen, er dachte daran, seine Karriere zu beenden, nahm sich eine Auszeit.

Tut sich der DFB einen Gefallen?

Womit sich auch die Frage stellt: Tut sich der DFB einen Gefallen damit, einen Schiedsrichter einzusetzen, der solch eine Hypothek mit sich herumträgt, weil die Vergangenheit jedes Mal hervorgekramt wird? Und dafür reicht bereits ein vermeintlicher Fehler Zwayers. Und tut sich Zwayer einen Gefallen, wenn die eigene Vergangenheit zu Morddrohungen führt?

Meier appelliert daran, dass man sich an die eigene Nase fassen und sich fragen solle: "Wie würden wir in so einer Situation reagieren? Was würden wir uns wünschen, wie damit umgegangen wird? Es ist einfach nicht fair, wenn jemand seine Strafe bekommen hat, dass man ihm das immer wieder vorhält", so Meier. "Menschen machen Fehler. Und dann muss es irgendwann gut und erledigt sein." Denn, so Meier, "oft sind es genau die Menschen, die stärker werden, die aus Fehlern lernen".

Ratschlag an Schiris von Meier

Dass jemand wie Gräfe immer wieder zu Kritik ausholt und die Vergangenheit hervorkramt, wird Zwayer nicht ändern können. "Er kann die Menschen nicht ändern. Doch diese EM ist Balsam auf seine Seele. Was man auch sieht", so Meier. "Er ist bei einer EM. Manuel Gräfe war noch nie bei einer EM. Ich weiß auch nicht, was er damit bezwecken will."

Deshalb wäre sein Rat, dass sich Gräfe und Zwayer an einen Tisch setzen sollten. "Und mein Tipp an Gräfe wäre: loslassen. Denn glücklich ist, wer vergisst, was nicht zu ändern ist." Damit die Kritik in Zukunft auf Sachebene und nicht auf einer emotionalen Ebene geführt werde, so Meier: "Es sollte immer um die Sache gehen. Es geht immer darum, wie man jemanden besser machen kann."

In der ganzen Diskussion hat nun auch die Uefa ein "Statement" gesetzt, denn Zwayer wurde für seine bisherigen Leistungen mit einem weiteren Einsatz bei der EM belohnt: Der 43-Jährige pfeift im Achtelfinale am Dienstag Rumänien gegen die Niederlande.

Über die Gesprächspartner

  • Alex Feuerherdt ist seit Sommer 2023 Leiter Kommunikation und Medienarbeit der DFB Schiri GmbH. Der 53-Jährige ist seit fast 40 Jahren Schiedsrichter und seit gut 25 Jahren in der Aus- und Fortbildung von Referees tätig, dazu Schiedsrichter-Beobachter und -Coach.
  • Urs Meier ist ein ehemaliger Schweizer Profi-Schiedsrichter. In seiner Karriere hat er über 880 Spiele geleitet, unter anderem auch bei großen Turnieren wie Welt- und Europameisterschaften. Später war er unter anderem als TV-Experte beim ZDF im Einsatz, heute ist er Schiedsrichter-Experte beim Schweizer Fernsehsender Blue TV sowie Dazn.

Verwendete Quellen

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.