Borussia Dortmund erlebte trotz einer 2:0-Führung noch ein Debakel bei Real Madrid. Im Zentrum der Kritik steht nun Trainer Nuri Sahin und dessen Taktik. Und beim BVB sind spätestens jetzt Parallelen zur Vor-Saison zu erkennen.

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Mit Systemdebatten kennen sie sich in Dortmund ja bestens aus. Die Wucht der Diskussionen, mit denen sich Cheftrainer Nuri Sahin unmittelbar nach dem Spiel bei Real Madrid und womöglich auch noch in den kommenden Tagen und Wochen auseinandersetzen muss, erreicht aber schon jetzt eine ganz neue Qualität.

Die Fakten liegen auf dem Tisch und lassen nur eine Deutung zu: Nuri Sahin hat sich mit seinen Personal- und Taktikrochaden in der zweiten Halbzeit verhoben. Aus einem 2:0-Vorsprung, herausgespielt durch einen durchaus mutigen Ansatz mit und gegen den Ball, wurde ein 2:5-Debakel.

Fünf Gegentore kassierte der BVB nach der Umstellung von einer Vierer- auf eine Fünferkette und der dazu "passenden" Hereinnahme von Innenverteidiger Waldemar Anton für Offensivspieler Jamie Gittens. Ab der 60. Minute brach bis zum Schlusspfiff ein Orkan über den BVB herein, den selbst das Bernabeu mit seinen zahllosen Aufholjagden selten zuvor in dieser Ausprägung erlebt hat.

Zu verantworten hatte das nach Abpfiff in erster Linie der Cheftrainer, nur wollte sich Nuri Sahin merklich nicht voll und vor allen Dingen allein in den Wind stellen. "Du bereitest jedes Spiel mit Plan A und Plan B vor. Und wenn du verlierst, ist die Umstellung nicht richtig - das kannst du sagen, ganz klar ... erst recht, wenn du fünf Tore bekommst", sagte der Trainer bei Prime Video zwar. Ausdrücklich auf seine Kappe wollte Sahin die heftige Abfuhr gegen Real zunächst aber nicht nehmen.

Und das, obwohl Sahin nun der erste Trainer in der Champions-League-Geschichte der Borussia ist, dessen Mannschaft fünf Gegentore in einem Spiel kassiert hat. Die Serie mit sechs Niederlagen, zwei Remis und keinem einzigen Sieg bei Gastspielen im Bernabeu hielt ebenfalls, auch das ein eher trauriger Rekord in der Königsklasse. Zumindest aber einer mit einer Vorgeschichte, die Sahin definitiv nicht zu verantworten hatte.

Grundsätzlich nachvollziehbare Ideen

Ganz im Gegenteil zum totalen Zusammenbruch aller Systeme in der zweiten Halbzeit gegen Real: Unmittelbar nach dem zweiten Dortmunder Treffer durch Gittens hatte Madrid noch vor der Pause gleich drei dicke Möglichkeiten und scheiterte unter anderem zweimal an der Latte. Für Sahin eine Art Weckruf und letzte Warnung zugleich, die zu einer fatalen Entscheidung führten.

"Wir haben in der Pause gesagt, dass wir umstellen, wenn wir weiterhin die Außenbahn nicht zu bekommen. Das schaffst du nicht, wenn die dich so sehr reindrücken. Wir wollten mit Waldi (Waldemar Anton, Anm. d. Red.), dass wir engere Abstände haben und noch schneller herausrücken können", erklärte Sahin später seine und die Gedanken seines Trainerteams und warum sich die Verantwortlichen zu einer Abkehr der bis dahin durchaus griffigen und - auch gemessen am Zwischenresultat - erfolgreichen Strategie entschlossen.

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Die grundsätzliche Überlegung, gegen die beiden fulminanten Flügelspieler Rodrygo und Vinicius Junior eine zusätzliche Sicherungsstufe auf den Seiten einzubauen, um die Real-Spieler wieder öfter zu doppeln und dazu noch einen Spieler herausstechen zu lassen, der im Zentrum nach vorne verteidigen kann, war nachvollziehbar und fast wie aus dem Lehrbuch.

Nur reagieren Mannschaften im Bernabeu in der Regel nicht nach den üblichen Gesetzen des Fußballs: weder Real Madrid noch der betreffende Gegner. Egal, ob der Bayern München, Manchester City, Paris St.-Germain oder VfB Stuttgart heißt. Oder nun eben Borussia Dortmund.

Maßnahme aus dem Trainer-Playbook

Das Gespür für die Situation und die Erinnerung an die Erfahrungen zahlloser anderer Mannschaften in den letzten Jahren hätten in diesem Fall wohl mehr positiven Einfluss auf das Dortmunder Spiel gehabt als eine doch recht klinische taktische Entscheidung aus dem Playbook für Trainer. Auf eine deutlich verstärkte Defensive zu setzen, kann im Bernabeu auch in der 85. Minute noch schiefgehen.

Dieses Signal bereits nach 55 Minuten und bei "nur" zwei Toren Vorsprung zu setzen, erwies sich als gleich doppelt fatal: Für Real Madrid, das sich in einen Belagerungszustand spielen konnte und letztlich in einen regelrechten Rausch, ohne Gefahr laufen zu müssen, sich noch mehrere Konter einzufangen. Und für den BVB selbst, als Sahin nur wenige Minute nach Gittens‘ Auswechslung im zweiten Torschützen Donyell Malen den anderen pfeilschnellen Konterspieler vom Platz nahm und durch den defensiven Mittelfeldspieler Pascal Groß ersetzte.

"Ich habe mit Ball kein großes Problem gesehen", sagte Sahin. Und spätestens bei dieser Einschätzung wollten ihm viele Experten und Fans offenbar nicht mehr folgen. An der Aufgabe, sich in Madrid über einen längeren Zeitraum eines gewaltigen Ansturms zu erwehren, ohne dabei immer mal wieder auch für die nötige Entlastung zu sorgen, sind schon ganz andere gescheitert. So spektakulär und in gewisser Weise auch tragisch wie der BVB aber nur wenige.

Kehl: "Jetzt über taktische Inhalte zu sprechen, macht keinen Sinn"

Zu der immer noch einigermaßen unerklärlichen Real-Madrid-Magie kam an diesem Abend eben auch die Wahl der falschen Mittel des Gegners. Auch wenn sich Sahin bis zuletzt dagegen sträubte, dies auch so klar zu benennen und stattdessen auf das universell einsetzbare Argument des "fehlenden Zugriffs" verwies.

"Ich glaube nicht, dass es an dem Systemwechsel lag", sagte er. "Sondern eher daran, dass wir keinen Zugriff hatten. Wir hatten gegen den Ball über 90 Minuten ganz vorne nicht wirklich diese Pressingmomente." Aber eben fast 40 Minuten lang auch keine großen Probleme, Real Madrid in deren eigenen Stadion zu verteidigen. Da entstanden tatsächlich erst nach Sahins Umstellungen.

Beim BVB waren sie sichtlich bemüht darum, die nächste deftige Auswärtspleite gegen einen spielstarken Gegner (nach dem 1:5 in Stuttgart) nicht am Trainer aufzuhängen. "Jetzt über Wechsel und taktische Inhalte zu sprechen, macht nach dem Spiel natürlich keinen Sinn", sagte Sportchef Sebastian Kehl und überging damit geflissentlich, dass man in der Regel eben genau nach einem Spiel auch über taktische Inhalte sprechen muss.

"Unser Trainer stellt nicht um, wenn er dahinter nicht eine klare Idee hat. Es war eine Überlegung wert, durch eine Fünferkette etwas mehr Druck auf die Außenpositionen zu bekommen, die Seiten zu doppeln. Weil wir Eins-gegen-eins-Situationen verhindern wollten, vor allem wenn man gegen Vinicius Junior spielt. Das war die Idee dahinter. Im Nachgang sitzt man oben und wird es womöglich anders beurteilen…"

Parallelen zu Vorgänger Terzic

So wie das auch oft genug in der jüngeren Vergangenheit schon der Fall war. Ausgerechnet Sahins Vorgänger und ehemaliger Chef Edin Terzic war als Experte bei "Amazon Prime" damit beauftragt, nun eine Sache zu erklären, die er in seiner Funktion als BVB-Cheftrainer in der abgelaufenen Saison schon mehrfach erklären sollte.

Terzic sah sich immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, auf diesem Niveau nicht der richtige Trainer zu sein - trotz seiner nachweislichen Erfolge, unter anderem dem Einzug ins Finale der Champions League. Die vielen Wechsel der Grundordnungen und der viel zitierten Mauertaktik in Spielen gegen große Mannschaften wurden dann nicht als nötige Flexibilität ausgelegt, sondern einer Entfremdung vom Dortmunder Markenkern des mutigen, aggressiven und offensiven Fußballs. Den Makel, immer auch noch ein Lernender zu sein, der es weder den Fans noch Teilen seiner Mannschaft recht machen kann, konnte Terzic nie so richtig abstreifen.

Vielleicht ist das Dortmunder Umfeld beim nächsten Trainer ohne große Erfahrung auch deshalb so hochsensibel. Erste leise Zweifel waren nach den zum Teil dürftigen Darbietungen in der Liga schon zu vernehmen, rückten die Highlights in den Hintergrund. Der heftige Schlag ins Kontor mit der Niederlage von Madrid inklusive der hitzigen Taktik-Diskussionen werden Nuri Sahin jedenfalls nicht helfen.

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