Neulich hat Edin Terzić für ein bisschen Aufsehen gesorgt. Auf der Pressekonferenz vor dem Spiel gegen Union Berlin hat Dortmunds Cheftrainer vom „einem Prozess“ erzählt, in dem sich seine Mannschaft gerade und immer noch befinde. Was einigermaßen verwunderlich wirkte: Weder hatte der BVB vor der Saison eine größere Transformation zu bewältigen noch zu wenig Zeit, sich auf vielen Ebenen zu entwickeln.

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Nach gut zwei Dritteln der Saison sollten einschneidende Prozesse an sich abgeschlossen sein oder wenigstens kurz vor ihrer Vollendung stehen. Bei der Borussia wirkt aber immer noch einiges unvollendet und halbgar. Und weil jetzt angesichts der bedrohlichen Lage in der Liga keine Zeit mehr für Experimente bleiben kann, dürften notwendige Inhalte immer noch ein Stück weiter in den Hintergrund rücken und dem Ergebnisdruck weichen.

Platz vier heißt das Minimalziel und dafür braucht es Siege. Das Diktat des Erfolgs schlägt hierbei jede Entwicklung und das führt den BVB und sein Trainerteam alsbald in ein veritables Dilemma.

Hohe Erwartungshaltung geschürt

Vor rund zwei Monaten wurde Jadon Sancho in Dortmund wie ein Heilsbringer empfangen. Die Episode mit einem extra für den besonders schnellen Transfer vorgesehenen Privatjet drohte sich schon zur Posse zu entwickeln. Sie zeigte aber auch, wie ernst es der BVB meinte und wie sehr man bereit war, die Grenzen des Machbaren für diesen Spieler auszureizen.

Die Sancho-Leihe ist finanziell ein überschaubares Risiko, der Transfer als solcher war eine gute Idee. Und die vielen Herzschmerz-Geschichten um die Rückkehr des verlorenen Sohnes vermochten ja tatsächlich ein wenig Euphorie in einem ansonsten eher zaudernden Klub entfachen.

Ein paar Wochen später muss die Borussia aber auch feststellen, dass die hohe Erwartungshaltung von Fans und Medien und wohl auch der Mitspieler und den Dortmunder Offiziellen an Sancho mit der Realität ziemlich kollidiert.

Keine Zeit für Entwicklung

Nach dem fast schon kitschigen Start gegen Darmstadt mit einer späten Einwechslung und einem schnellen Assists auf seinen alten Kumpel Marco Reus folgt die Entwicklung und Integration des Spielers nicht mehr den zumindest insgeheim formulierten Vorstellungen. Dass es Sancho nach knapp zwei verlorenen Jahren bei Manchester United schwer haben würde, war wohl eingepreist. Dass er zuletzt aber tatsächlich kaum noch ein Faktor im Spiel des BVB war, aber wohl eher nicht.

Sanchos Leistungen stagnieren, wohlwollend betrachtet. Gerade jetzt bräuchte der 23-Jährige Zeit und Raum zur Entfaltung, um sich peu à peu wieder jenem Niveau zu nähern, dass er vor seinem Abschied aus Dortmund hatte. Nur kann ihm eine Mannschaft auf der drängenden Suche nach nackten Ergebnissen diesen Raum kaum bieten. Für den Entwicklungsspieler Sancho ist beim BVB keine Zeit zur Entwicklung. Und vielleicht auch schon kein Platz mehr in der ersten Elf.

Zu wenig Ertrag in Sanchos Spiel

In den letzten vier Pflichtspielen war Sancho als Startspieler gesetzt und vermutlich wäre diese Serie schon deutlich länger, hätten ihm nicht muskuläre Probleme in den Wochen davor zugesetzt. Terzic baut auf Sancho, er vertraut auf dessen Qualität und dessen Fähigkeiten und hofft offenbar auf so etwas wie eine Initialzündung.

Was der Trainer und alle Beobachter aber zu sehen bekommen, ist ein zögerlicher Spieler - der sich zwar in direkte Duelle traut, dem dafür aber immer noch die Spritzigkeit und auch die letzte Überzeugung abgehen, den Gegenspieler mit Haut und Haaren aufzufressen. Oder wie selbstverständlich am ersten und vielleicht auch am zweiten Gegenspieler vorbeizuziehen.

Immer mal wieder blitzt diese Genialität kurz auf, bei einer geschmeidigen Ballmitnahme oder wenn Sancho zum Dribbling ansetzt. Fortsetzen und zielgerichtet vollenden kann er diese Situationen aber nicht und somit bleiben einige hübsche Ansätze - aber nur wenig Ertrag. Und die Frage, wie lange sich die Borussia diese Elemente noch in seinem Spiel leisten kann.

Neuer Konkurrenzkampf auf den Flügeln

Offenbar kursieren ein paar Gerüchte, dass intern über eine Verlängerung der Leihe über das Saisonende hinaus debattiert wird. Dafür sollten die Entscheider aber über Sanchos wahres Leistungsvermögen befinden können. Konkrete Anhaltspunkte kann der Engländer momentan kaum liefern, die Idee von der Soforthilfe droht zu scheitern.

Und spätestens mit dem kommenden Wochenende und der Partie bei Werder Bremen wird sich Sancho auch einem deutlich härteren Konkurrenzkampf auf dem Flügel stellen müssen. In Berlin zuletzt fehlte der gesetzte Donyell Malen wegen einer Gelb-Sperre. Der mit zehn Toren und zwei Assists gefährlichste Flügelspieler wird in Bremen aber ziemlich sicher wieder in der Startelf stehen.

Karim Adeyemi ist in Berlin auch nicht alles geglückt, besonders in der Anfangsphase der Partie wirkte der Nationalspieler fahrig und unglücklich. Aber Adeyemi konnte das Spiel mit seinem Treffer zum wichtigen 1:0 aufbrechen und auf die Seite der Borussia ziehen. Adeyemi benötigt nach seiner langen Ausfallzeit nun - ähnlich wie Sancho - weitere Spielzeit, um seinen Rhythmus zu finden.

Zwar zeigt dessen Leistungskurve immer noch nur leicht nach oben. Aber zumindest ist eine Entwicklung zu erkennen. Bei Sancho musste man zuletzt danach in der Regel vergeblich suchen. Und mit Jamie Bynoe-Gittens und Julien Duranville scharren zwei Youngster schon heftig mit den Hufen. Beide sind reine Flügelspieler, die in den kommenden Wochen noch wichtig werden können. Und die damit automatisch den Druck auf Sancho erhöhen.

Der wirkt momentan ein wenig wie der richtige Spieler zur falschen Zeit beim BVB. Die Ausgangslage war schon mal besser für Jadon Sancho. Die Zeit, da er sich aufgrund diverser Verletzungen oder Erkrankungen anderer Spieler quasi von selbst aufgestellt hat, ist vorbei. Und es wird spannend zu beobachten, ob er bei der Borussia noch die Kurve bekommt. Und ob er vom Trainerteam dafür überhaupt noch genug Gelegenheit bekommt.


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