• Neuer schadet sich mit der öffentlichen Kritik vor allem selbst.
  • Seine Position in München und damit gleichbedeutend auch bei der Nationalmannschaft ist so geschwächt wie vielleicht noch nie.
  • Wenn Neuer einen Machtkampf mit dem Trainer sucht, wird er ihn verlieren.
Steffen Meyer
Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Steffen Meyer dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Manuel Neuer ist lange genug dabei, um zu wissen, was er mit seinem Interview vom Wochenende auslösen würde. Immer, wenn sich ein Spieler öffentlich kritisch mit Entscheidungen der Vereinsführung oder gar des Trainers auseinandersetzt, sorgt das für Schlagzeilen. Erst recht beim FC Bayern München, wo ohnehin jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird. Nun ist Manuel Neuer nicht irgendein Spieler, sondern Kapitän des FC Bayern, der Nationalmannschaft und einer der am höchsten dekorierten Spieler in der deutschen Fußballgeschichte. Dass die kritischen Aussagen über das Aus seines Torwarttrainers Toni Tapalovic also für eine mediale Explosion und heftige Reaktionen sorgen würden, muss ihm klar gewesen sein.

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Insbesondere deshalb, weil das kein Liveaufsager kurz nach einem emotionalen Spiel war, wo die ein oder andere Aussagen auch mal über- oder fehlinterpretiert werden kann. Neuer hat ein verschriftlichtes Interview gegeben. Vermutlich mit gewissem Vorlauf, in aller Ruhe und Freigabeprozess, wie es in der Branche üblich ist. Jede einzelne Formulierung war bedacht und bewusst so gewählt. Was bleibt, ist die Frage nach dem Warum.

Neuer spricht von einem Schlag, als er am Boden lag

Die Trennung von Tapalovic sei "das Krasseste" gewesen, was er in seiner Karriere erlebt habe, sagte Neuer unter anderem. Auch sprach er von einem "Schlag", obwohl er nach seiner schweren Verletzung bereits am Boden lag. Zudem stellte er die Gründe, die zur Trennung von Tapalovic führten, als nicht überzeugend infrage. Zum Verhältnis mit Julian Nagelsmann brachte er gerade noch ein "professionell" über die Lippen. Das ist so ziemlich der unterste Mindeststandard, wenn ein Spieler öffentlich über seinen Trainer spricht. Und auch hier sind Neuers Worte als Kapitän besonders wirkmächtig.

Menschlich ist das Interview nachvollziehbar. In den vergangenen zwei Monaten wurde viel über Neuer gesprochen. Über die verkorkste WM der Nationalmannschaft, über seine Zukunft im Tor beim DFB. Über seine schwere Verletzung beim Skifahren. Über seine Zukunft beim FC Bayern und nicht zuletzt über die möglichen Folgen des Tapalovic-Abgangs, der über ein Jahrzehnt Neuers wichtigste Bezugsperson im Club war, für ihn persönlich.

Neuer musste schweigen. Weil er verletzt ist und weder auf dem Platz, noch am Rande der Spiele am Mikro antworten konnte. Nun brach es regelrecht aus ihm heraus. Wie gesagt: Menschlich ist das alles nachvollziehbar. Und doch kann man dieses Interview nicht vom Kontext lösen. Hier spricht ein Angestellter des FC Bayern über Entscheidungen seines Arbeitgebers. Hier spricht der Kapitän der deutschen Nationalmannschaft, der eigentlich eine Vorbildfunktion in Sachen Kommunikation und Teamplay zu haben hat.

Interview kommt in sportlich komplizierter Phase

Hinzu kommt das Timing. Der FC Bayern ging sportlich vor dem Wolfsburg-Spiel durch eine schwierige Phase. Wenn es Neuer darum gegangen wäre, bestimmte Dinge klarzustellen und seine Position zu vertreten, hätte er das auch noch in der Sommerpause oder zu einem günstigeren Zeitpunkt tun können. Zumal er im Interview selbst hervorhebt, dass die Mannschaft für ihn an erster Stelle steht. Das wirkt gerade jetzt wie ein Widerspruch. Genau deshalb hinken Vergleiche mit dem legendären Interview mit Philipp Lahm im Jahr 2010.

Lahm hatte damals die Bayern-Bosse herausgefordert mit einer Verteidigung des damaligen Trainers Louis van Gaal, einer Kritik an der Transferpolitik und der fehlenden Philosophie. Lahm wurde damals ebenfalls vorgeworfen, er schaue nur auf sich. Doch Lahm ging es damals um die zukünftige Ausrichtung des FC Bayern, nicht um die Deutungshohheit seiner eigenen Situation. Die Geldstrafe war heftig. Doch Lahm leistete einen Beitrag, den damals träge wirkenden FC Bayern zu professionalisieren. Was ist der konstruktive Beitrag von Neuers Aussagen? Am Ende kann er seinen Kollegen danken, dass sie das Thema mit dem 4:2-Erfolg gegen Wolfsburg ein wenig entschärfen konnten.

Neuer: "Hatte das Gefühl, mir wird mein Herz rausgerissen"

Manuel Neuer hat den FC Bayern harsch kritisiert. Der Rauswurf seines Torwarttrainers und Trauzeugen Toni Tapalovic sei "das Krasseste, was ich in meiner Karriere erlebt habe", sagte der Bayern-Kapitän. Er habe das Gefühl gehabt, "mir wird mein Herz rausgerissen", sagte der 36-Jährige.

Neuer hat seine Position beim FC Bayern und der Nationalmannschaft verschlechtert

Blickt man mit zwei Tagen Abstand professionell auf das Interview, muss man festhalten, dass Neuer seine Situation mit dem Interview in keiner Hinsicht verbessert hat. Die Bosse sind sauer. Seine Eignung als Kapitän wird öffentlich infrage gestellt. All das in einer Phase, in der mit Yann Sommer zum ersten Mal in seiner über zehnjährigen Bayern-Karriere ein ernst zu nehmender Konkurrent im Kader steht, der Neuer auch nach seiner Rückkehr herausfordern kann.

War es vor zwei Wochen noch sehr wahrscheinlich, dass Neuer bei vollständiger Genesung den Weg ins Bayern-Tor zurückfindet, ist das heute offen wie nie. Trotz laufendem Vertrag bis 2024. Sollte es Neuer wegen der Personalie Tapalovic auf einen Machtkampf mit Julian Nagelsmann ankommen lassen, kann er diesen ebenfalls nur verlieren. Zwar gilt das Verhältnis zwischen dem sehr fordernden Nagelsmann und der Mannschaft als wechselhaft und nicht frei von Störungen. Doch Neuer beginnt mit bald 37 Jahren die letzte Kurve seiner Karriere, während Nagelsmann mit 36 Jahren noch sehr, sehr viel Zukunft vor sich hat.

Bosse stehen hinter Nagelsmann

Zudem haben sich die Verantwortlichen um die Vorstandsvorsitzenden Oliver Kahn auch in schwierigen Phasen demonstrativ hinter den Coach gestellt, da ihm sportlich ohnehin wenig vorzuwerfen ist.

Verliert Neuer so das Bayern-Tor, dürfte es auch mit Blick auf die Heim-EM 2024 noch einmal deutlich schwieriger für ihn werden, seine Pole Position gegen den seit Jahren überzeugenden Marc-André ter Stegen zu verteidigen. Auch hier schadet das Interview Neuer.

Die Rückkehr nach einer schweren Verletzung kommt vielen Fußballern vor wie die Besteigung eines Berges, die wahnsinnig viel Kraft und Disziplin fordert. Durch Neuers Aussagen ist dieser Berg für den Bayern-Torwart nochmal ein gutes Stück steiler geworden. Zum ersten Mal nach über zehn Jahren erscheint es möglich, dass der FC Bayern in Zukunft auf einen anderen Torwart setzt als Manuel Neuer. Es wäre kein würdiges Ende einer großartigen Bayern-Karriere.

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