Nicola Beer, die Spitzenkandidatin der FDP für die Europawahl 2019 am 26. Mai, hat ihr eigenes Rezept, um gegen Autokraten wie Viktor Orban vorzugehen. Die Ungarn-Verbindungen ihres Mannes sind für sie dabei kein Problem. Im Interview spricht Beer über die Aussichten der Liberalen und die Probleme Europas. Außerdem kommentiert sie ihre umstrittene Wahl zur stellvertretenden Parteivorsitzenden und das Verhältnis zu FDP-Chef Christian Lindner.
Frau
Nicola Beer: (lacht) Ja, die Gefahr besteht tatsächlich, wenn man kreuz und quer durch Deutschland unterwegs ist und mehrere Auftritte pro Tag hat.
Und wie oft kommt der Gedanke: Warum mache ich den ganzen Kram eigentlich mit?
Die Frage stelle ich mir nun wirklich nicht. Ich weiß ganz genau, warum ich kandidiere. Die Gründe, sich für ein Europa zu engagieren, das besser aufgestellt ist als das, was wir aktuell sehen, sind unendlich und vor allem gewichtig. Die Nachrichten zeigen täglich, wo Europa gefragt wäre – aber leider nicht liefert.
Zum Beispiel?
Nehmen Sie die Debatte um Krieg und Frieden in Nahost, wo ein Europa, das mit einer Stimme spricht, einen deutlichen Unterschied machen könnte, aber einfach nicht da ist. Als Europäer könnten wir eine Initiative lancieren, etwa eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Nahost, um endlich mal für die gesamte Region eine Strategie auszurollen, wie man wirklich Frieden schaffen kann.
Die Beteiligung an EU-Wahlen ist traditionell niedrig, TV-Duelle finden, gerade bei jungen Menschen, wenig Anklang. Woher kommt das Desinteresse?
Ich habe zunehmend den Eindruck, dass vieles von dem, was Europa für uns erreicht hat, selbstverständlich geworden ist. Da rede ich nicht nur davon, dass wir in Europa uneingeschränkt reisen können, unsere Verbraucherrechte überall geschützt sind und Roaming nicht mehr so teuer ist wie früher. Sondern da geht es auch um die großen Errungenschaften: Frieden und Freiheit. Auf sie gründet übrigens auch unser Wohlstand. Gleichzeitig müssen wir uns immer wieder bewusst machen, dass dieser Zustand erhalten und verteidigt werden muss. Vor Ostern gab es die erste Tote an der irisch-nordirischen Grenze. Das zeigt, wie zerbrechlich der Frieden auf diesem Kontinent ist.
Wie wollen Sie das Interesse an Europa steigern?
Wir wollen die europäischen Debatten früher nach Deutschland holen. Hierzulande diskutieren wir immer erst dann, wenn in Brüssel und Straßburg schon entschieden wurde. Ich möchte stattdessen die Bevölkerung früher einbeziehen und die entsprechenden Themen auch von Deutschland nach Straßburg und Brüssel mitnehmen, damit diese gegenseitige Teilnahme frühzeitiger stattfindet.
Aber das Europäische Parlament ist doch relativ einflusslos. In wichtigen Fragen werden die Entscheidungen der Kommission und des Rates lediglich abgenickt.
Dennoch brauchen Sie auch die Mehrheit im Parlament. Zugegeben, es ist ein anderer Beratungsprozess, weil Kommission, Rat und Parlament im Dreieck arbeiten. Aber viele der Sachen, die nachher in Deutschland und den anderen Mitgliedsstaaten "nur noch" umgesetzt werden, wurden vorher in Brüssel und Straßburg entschieden. Genau das ist mein Punkt: Die deutsche Öffentlichkeit muss die Gelegenheit haben, sich stärker und frühzeitiger mit diesen Fragestellungen zu befassen. Hier ist die Politik gefragt.
So wie bei den Upload-Filtern?
Genau. Eine der ganz wenigen Ausnahmen, wo in Deutschland intensiv über alle Pros und Kontras diskutiert wurde, bevor endgültig in Straßburg die Entscheidung fiel. Das Parlament hat also Einfluss und trifft Entscheidungen. Häufig fallen diese sehr knapp aus, das heißt es macht am 26. Mai einen echten Unterschied, wen ich wähle.
Das mag sein, aber ich wähle nur jemanden, der über Gesetze entscheidet, die von Kommission und Rat vorgelegt werden. Eigene Gesetze darf das Europäische Parlament nicht einbringen.
Völlig richtig. Aber genau das wollen wir ändern. Es gibt drei Punkte, um die Arbeitsweise strukturell zu reformieren: Erstens das Gesetzesinitiativrecht für das Parlament. In allen Parteiprogrammen wird das gefordert, deshalb sollten wir es endlich umsetzen. Zweitens wollen wir die Kommission deutlich verkleinern. Kein Mensch braucht 28 Kommissare, 18 reichen völlig. Das sollte unmittelbar nach der Wahl passieren. Und drittens wollen wir durch häufigere Mehrheitsbestimmungen im Rat die Prozesse deutlich beschleunigen.
Es gibt in Europa einige Länder, die den Fokus auf den Nationalstaat richten und die europäischen Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie bekämpfen wollen. Was kann man gegen solche Euro-Skeptiker oder -Gegner tun?
Da müssen wir auf zwei Ebenen gleichzeitig ansetzen. Einmal gilt es mit den Gesellschaften im Gespräch zu bleiben und uns über dortige Entwicklungen auszutauschen. Wir reden ja hier von gewählten Regierungen, die auch wieder abgewählt werden können. Das unterscheidet die EU von vielen anderen Regionen auf diesem Erdball.
Und andererseits?
Wir müssen auch institutionell an solchen Stellen wirksamer und vor allem schneller reagieren, als das bislang der Fall ist. Als FDP haben wir vorgeschlagen, die Grundrechteagentur so zu stärken, dass in einem unabhängigen, rechtsstaatlichen Rahmen eine permanente Evaluation für alle EU-Mitglieder im Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit und Freiheitsrechte eingerichtet wird. So werden wir viel früher auf Fehlentwicklungen aufmerksam und können darauf dringen, diese abzustellen. Falls das nicht passieren sollte, würden automatische Sanktionen in Kraft treten – zum Beispiel der Entzug von Fördergeldern oder Stimmrechten.
Im Gegensatz zum Beispiel zu Emmanuel Macron und seiner Bewegung "La Republique en Marche", mit der die europäischen Liberalen ALDE eine Kooperation eingegangen sind, wirken deutsche liberale Politiker ziemlich blass. Woran liegt das?
Macron ist französischer Staatspräsident, das ist natürlich eine ganz andere Ebene. Er ist einer derjenigen, der gerade die deutsche Bundesregierung immer wieder herausfordert. Kanzlerin Angela Merkel und Außenminister Heiko Maas haben überhaupt keine europapolitischen Ambitionen, geschweige denn Visionen, wie sie dieses Europa für die Zukunft aufstellen wollen. Letztlich sind die Liberalen quer durch Europa die Kräfte, die diese EU glaubwürdig reformieren können. Wir haben nicht nur die Konzepte, sondern auch den Mut, etwas zu verändern. Daher besteht eine sehr gute Chance, im Europäischen Parlament ganz erheblich zu wachsen und drittstärkste – mit etwas Glück vielleicht sogar zweitstärkste – Kraft zu werden. Nur die Liberalen geben die Garantie, dass sich am Stillstand in der EU etwas ändert.
2014 holte die FDP 3,4 Prozent der Stimmen. Bei welchem Wahlausgang am 26. Mai würden Sie sich selbst einen Erfolg attestieren?
Wir wollen uns mindestens verdoppeln, was die Anzahl der Abgeordneten betrifft, am liebsten sogar verdreifachen – und dafür legen wir uns im Wahlkampf-Endspurt ins Zeug.
Ihr Parteichef,
Nein, überhaupt nicht. Ich stehe in einem regelmäßigen Austausch gerade mit der Zivilgesellschaft in Ungarn. Ich glaube, wir tun gut daran, mit allen Ländern solche Gesprächskanäle offenzuhalten, weil wir merken, dass wir auch zwischen den Mitgliedsstaaten auseinanderdriften, egal ob das Ost und West, Nord und Süd oder Groß und Klein betrifft.
Die Entwicklungen in Ungarn finden Sie nicht bedenklich?
Sicher. Wie wir uns als FDP die Einhaltung der Grundwerte wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie vorstellen, habe ich bereits ausführlich geschildert. Das betrifft alle Mitgliedsstaaten, nicht nur Ungarn, aber auch Ungarn. Deshalb unterstützen wir dort auch unsere liberale Schwesterpartei Momentum, weil wir hoffen, dass sie in der Zukunft aus der ungarischen Gesellschaft heraus für andere Mehrheiten sorgen kann.
Die EVP zögert nach wie vor, Orbans Fidesz-Partei auszuschließen. Können Sie das nachvollziehen?
Manfred Weber versucht, sich alle Seiten und Möglichkeiten offenzuhalten, doch dieser Zickzack-Kurs ist offensichtlich mehr als inkonsequent. Wenn Orban ihm jetzt den Stuhl vor die Tür stellt, indem er erklärt, er werde ihn nicht zum Kommissionspräsidenten wählen, dann sagt das doch alles.
Sie wurden mit knapp 86 Prozent im Januar zur FDP-Spitzenkandidatin für die Europa-Wahl gewählt. Drei Monate später auf dem Bundesparteitag waren es nur noch knapp 59 Prozent, die Sie als stellvertretende Parteivorsitzende wollten. Man hat Ihnen Egoismus und Stillosigkeit vorgeworfen, auch weil Sie sich nicht bei Ihrer Vorgängerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann bedankt haben. Was sagen Sie dazu?
Das Ergebnis war nach sechs Jahren intensiver Aufbautätigkeit durchaus enttäuschend. Es hat mich auch getroffen. Aber es gibt manchmal solche Momente, wo es heißt: sich schütteln und weitermachen. Schließlich ist gewählt ja auch gewählt. Die große Unterstützung, der stehende Beifall des Parteitages bei meiner Europarede nach der Wahl zeigte dann, dass die Partei hinter mir steht. Übrigens hatte ich mich unmittelbar nach Bekanntwerden des Rückzugs von Marie-Agnes Strack-Zimmermann bei ihr bedankt.
Warum haben Sie sich überhaupt um den Posten als FDP-Vize beworben?
Weil es darum geht, Europa im Herzen unseres Parteipräsidiums zu verankern. Es geht darum, Brücke zu sein zwischen Diskussionen in Brüssel, die ich frühzeitiger in die deutsche Politik einbringen möchte, und den deutschen Themen, die ich mit nach Brüssel nehmen will, damit sie dort gehört werden. Dazu braucht man ein entsprechendes Amt.
Sieht das Parteichef Lindner auch so?
Ja, das war eine gemeinsame Idee, sich im Zusammenhang mit der europäischen Kandidatur so zu positionieren.
Zuvor haben Sie den Posten der FDP-Generalsekretärin aufgegeben. Schmerzt Sie der Verlust?
Nein, es geht dabei nicht um Schmerzen, sondern das war eine bewusste Entscheidung, meine Leidenschaft und Kraft ganz für die europäische Sache einzusetzen und eine neue Aufgabe und einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen.
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