Steigende Kosten, fehlende Fachkräfte, überlastete Angehörige: 30 Jahre nach Einführung der Pflegeversicherung ist das System dringend reformbedürftig. Was schlagen die Parteien vor? Und sind ihre Konzepte überzeugend?
Deutschland steht vor einer großen Herausforderung. Die nächste Bundesregierung wird nicht darum herumkommen, sich mit ihr zu beschäftigen. Doch im Bundestagswahlkampf spielt sie – wenn überhaupt – nur eine Nebenrolle. Dabei kann jeder Einzelne davon betroffen sein. Früher oder später, in der einen oder anderen Form.
Die Rede ist von der Pflege. Um Menschen für die eigene Pflegebedürftigkeit im Alter abzusichern, wurde 1995 die soziale Pflegeversicherung eingeführt. Doch 30 Jahren später ist das System dringend reformbedürftig.
Zukunft der Pflege: "Es muss geklärt werden, wo das Geld herkommen soll"
"Die große Herausforderung ist die Demografie", sagt Oliver Ehrentraut, Direktor und Leiter der volkswirtschaftlichen Abteilung des Wirtschaftsforschungsunternehmens Prognos. "Die geburtenstarken Jahrgänge gehen jetzt und in den nächsten Jahren in den Ruhestand. Einige Jahre später kommen sie in die Altersgruppe mit einem erhöhten Risiko der Pflegebedürftigkeit."
Wenn deutlich mehr Menschen gepflegt werden müssen, wird das den Finanzbedarf der Pflegeversicherung vergrößern. "Es muss geklärt werden, wo das Geld herkommen soll", sagt Ehrentraut. Und nicht nur das. Mehr pflegebedürftige Menschen erfordern auch eine steigende Zahl von Pflegenden. "Schon heute fehlen uns Fachkräfte, die diese Versorgung übernehmen", sagt Oliver Ehrentraut.
Das System krankt an vielen Stellen. Eine steigende Zahl von Pflegebedürftigen setzt die Pflegekassen immer stärker unter Druck. Schon jetzt deckt die Pflegeversicherung ohnehin nur einen Teil der Kosten ab. Für einen Platz in einem Pflegeheim müssen Betroffene im Schnitt 2.871 Euro pro Monat aus eigener Tasche zuzahlen. Das hat der Verband der Ersatzkassen berechnet. Wenn stattdessen Angehörige ihre Familienmitglieder zu Hause pflegen, bringt das viele an finanzielle und psychische Grenzen.
Gleichzeitig beklagen auch Pflegeheime und -dienste steigende Kosten und Bürokratie. Bessere Löhne für Pflegekräfte sind wichtig, um Menschen für den Beruf zu gewinnen. Doch sie haben auch ihren Preis für die Arbeitgeber und damit für das ganze Pflegesystem.
Bundestagswahl: Das schlagen die Parteien für die Pflege vor
In den Programmen zur Bundestagswahl klingen die Versprechen der Parteien ähnlich: Pflegebedürftige sollen in Würde leben können, Pflegende sollen entlastet werden. Und das alles soll bezahlbar bleiben. Die Crux aber ist die Frage: wie denn?
Mehr Digitalisierung und weniger Bürokratie sollen die Kosten senken – dafür sprechen sich die meisten Parteien aus. Die Grünen und die Linke wollen die Einnahmen der Kranken- und Pflegeversicherung zudem verbessern, indem auch auf Kapitalerträge (wie Zinsen oder Dividenden) Sozialversicherungsbeiträge erhoben werden. Eine Idee, die schon für Diskussionen und Kritik gesorgt hat.
Ein weiterer Vorschlag zur Entlastung der Pflegekassen: Die Versicherungsbeiträge für Bürgergeld-Empfänger sollen künftig nicht mehr von der Pflegeversicherung gezahlt werden – sondern aus dem Bundeshaushalt. Diese Forderung steht bei so unterschiedlichen Parteien wie Grünen, AfD und BSW im Programm.
Doch reichen diese Maßnahmen aus, um die Pflege auf stabile finanzielle Füße zu stellen? Vermutlich nicht.
Umstrittener sind daher die großen Reformen. SPD, Grüne, Linke und auch das BSW wollen aus der Pflegeversicherung auf lange Sicht eine Vollversicherung machen, die die Kosten für Heimaufenthalte oder häusliche Pflege möglichst komplett abdeckt. Sie wollen daher in Richtung einer Bürgerversicherung für den Gesundheits- und Pflegebereich gehen, in die alle Menschen einzahlen. Also auch Beamte, Selbstständige und andere, die bisher privatversichert sind.
CDU/CSU, FDP und AfD lehnen so eine Einheitsversicherung strikt ab. Die Union und die Liberalen schlagen stattdessen einen Finanzierungsmix vor: Die Bürgerinnen und Bürger sollen zusätzlich zur Pflegeversicherung Anreize bekommen, privat und über den Betrieb für den Pflegefall vorzusorgen, also Geld zurückzulegen. Die AfD wiederum will Kranken- und Pflegeversicherung zusammenlegen, um Kosten zu sparen.
SPD und Grüne erneuern zudem ein Versprechen, das die gescheiterte Ampelkoalition nicht umsetzen konnte: Wer für die Pflege eines Angehörigen beruflich kürzertreten muss, soll vom Staat einen zeitlich begrenzten Ausgleich für das entgangene Gehalt bekommen. Vergleichbar in etwa mit dem Elterngeld.
Die Schwächen der Vorschläge
"Ein echtes durchgerechnetes Finanzierungskonzept hat eigentlich keine Partei im Angebot", sagt Volkswirtschaftler Oliver Ehrentraut zu den Wahlprogrammen. Auch eine Bürgerversicherung als vermeintlich große Lösung sei noch kein Garant, um alle Finanzsorgen zu beseitigen. Denn sie bringt zwar zusätzliche und möglicherweise besserverdienende Beitragszahler ins System – aber eben auch mehr Menschen, die im Alter versorgt werden müssen. "Das kann ein Baustein sein, aber das reicht allein noch nicht für ein umfassendes Finanzierungskonzept", sagt Ehrentraut.
Das Gleiche gelte aus seiner Sicht für den Vorschlag, die private Vorsorge aufzubauen. "Es dauert gut und gerne 20 Jahre, bis man einen guten Kapitalstock dafür aufgebaut hat – und möglich ist es auch nur mit relativ hohen Sparsummen, die die Bürgerinnen und Bürger da reinstecken müssten."
Bleibt noch der Weg der verstärkten Steuerfinanzierung. Auch hier warnt der Wissenschaftler vor überzogenen Erwartungen. Man könne Belastungen nicht verschwinden lassen, indem man sie auf wundersame Weise ins Steuersystem verschiebt. "Auch diese Steuern werden ja von uns allen bezahlt", sagt Ehrentraut.
Eine Frage der Prioritäten
Letztlich ist es wie so häufig in der Politik: Auch die Zukunft des Pflegesystems ist eine Frage der Prioritäten. "Die Gesellschaft müsste sich stärker bewusst machen und darauf vorbereiten, dass eine gute Pflege im Alter Geld kostet", so Ehrentraut. Aus seiner Sicht geht es auch darum, die Ausgaben des Pflegesystems zu begrenzen – ohne die Qualität der Versorgung zu schmälern. Das verlange eine bessere Gesundheitsvorsorge. Eine Politik, die auch dafür sorgt, dass möglichst viele Menschen gar nicht in die besonders pflegeintensiven hohen Pflegegrade kommen. "Auch das sind Maßnahmen, die Zeit und gute Ideen zur Umsetzung brauchen", sagt der Volkswirt.
Über den Gesprächspartner
- Dr. Oliver Ehrentraut ist Diplom-Volkswirt. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Finanzwissenschaft I der Universität Freiburg und arbeitet seit 2008 beim Wirtschaftsforschungsunternehmen Prognos. Dort ist er Direktor und Leiter der volkswirtschaftlichen Abteilung und verantwortlich für den Standort Freiburg.
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Dr. Oliver Ehrentraut, Prognos
- Wahlprogramme der Parteien zur Bundestagswahl
- Pressemitteilung des Verbands der Ersatzkassen: Finanzielle Eigenbeteiligung von Pflegebedürftigen in Pflegeheimen steigt weiter – Bund und Länder in der Verantwortung