Russlands Nachbarn geben mehr Geld für Waffen aus. Militärisch ergibt das nicht immer Sinn, erklärt der Rüstungsexperte Ulrich Kühn von der Universität Hamburg. Entscheidend sei ohnehin eher, was die großen Nato-Staaten machen.

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Ist das Wettrüsten in Osteuropa in vollem Gange? Der aktuelle Bericht des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri weist auf steigende Militärausgaben in Osteuropa hin. Eine einfache Erklärung: Die Ukraine-Krise und die Angst vor einer russischen Aggression in den Nachbarländern. Doch ein genauerer Blick auf die Situation in den einzelnen Ländern lohnt sich – denn nicht überall geht es darum, sich mit Waffen gegen Russland zu wappnen. Zumal die meisten Nachbarn militärisch ohnehin weit unterlegen sind.

Die Ukraine

Es herrscht Krieg in der Ukraine, kein Wunder also, dass auch die Rüstungsausgaben gestiegen sind. Laut Sipri gab die Ukraine 2014 rund 5,3 Milliarden Dollar für das Militär aus, 2013 waren es noch 4,3 Milliarden. Hinter den Zahlen steckt aber ein großes Problem, erklärt Ulrich Kühn vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg: "Die Ukraine ist pleite - und ob die Geldgeber diese Ausgaben als sinnvoll erachten, ist fraglich." Andererseits müsse der Staat sich im Kampf gegen die Separatisten verteidigen.

Wenn Russland sich zu einem offenen Krieg mit der Ukraine entschließt, hätten Kiews Truppen wahrscheinlich wenig Chancen. "Ich würde vorsichtig sein bei den Zahlen, auch wenn sie vom Nato-Generalsekretär kommen", sagt Rüstungsexperte Kühn. Aber im südlichen Militärbezirk an der Grenze zur Ukraine habe Russland massiv konventionelle Truppen zusammengezogen. "Das sind Panzerbrigaden, Fallschirmjäger, auch Spezialeinheiten wie die 22. Speznas-Brigade. Diese Truppen sind den ukrainischen sowohl quantitativ als auch qualitativ überlegen."

Polen

Polen teilt eine schwierige Geschichte mit Russland – und, was viele vergessen, auch eine Grenze. Die russische Enklave Kaliningrad liegt im Nordosten des Landes, nur rund 100 Kilometer von Gdansk entfernt. Deswegen sei die Aufrüstung in Polen recht heikel, meint Ulrich Kühn. "Je mehr Polen aufrüstet, desto größer werden die russischen Sorgen um Kaliningrad. Da kommen wir leicht in einen Eskalationsmechanismus. Das kennen wir aus dem Kalten Krieg, und das wollen wir nicht." Im vergangenen Jahr hat Warschau 10,6 Milliarden Dollar für sein Militär ausgegeben, das sind 13 Prozent mehr als noch 2013. "An der östlichen Nato-Flanke ist Polen das Schwergewicht", sagt Kühn. Die wirtschaftliche Stärke erlaube es Warschau, selbst zu investieren. "Es ist richtig, dass Polen sich nicht nur auf die westlichen Partner verlässt."

Das Baltikum

Vor elf Jahren sind die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen der Nato beigetreten. "Seitdem haben sie sich in Sicherheit gewiegt", sagt Ulrich Kühn. Doch das habe sich spätestens seit dem russisch-georgischen Krieg 2008 deutlich geändert. Damals hatte Russland zugunsten der abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien eingegriffen, in denen viele Menschen die russische Staatsbürgerschaft besitzen. Georgien befand sich vor dem Krieg auf dem Weg in die Nato, die USA hatten geholfen, die Armee zu modernisieren. Doch innerhalb von fünf Tagen besiegten die russischen Truppen ihre Gegner. Damit endeten auch vorerst die Bestrebungen der Nato, Georgien aufzunehmen.

Vor allem Estland und Lettland wittern nun wieder Gefahr. In beiden Ländern lebt eine bedeutende russische Minderheit. Mit Sorge wies erst gestern der estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves auf Manöver der russischen Truppen an der gemeinsamen Grenze hin. Sein Land hat den Militärhaushalt laut Sipri um rund fünf Prozent erhöht – allerdings ist die Größenordnung zu vernachlässigen. 496 Millionen Dollar gibt Estland für Rüstung aus, in Lettland sind es 307 Millionen, in Litauen 378 Millionen. "Diese Länder verfügen über so gut wie keine schweren Kriegsgeräte", erklärt Rüstungsexperte Kühn. "Vor einigen Jahren hatte Litauen noch genau drei Panzer. Das ist im Vergleich zu Russland nichts." Dazu komme die Enge des Raumes. "Wenn man von Osten angreift, wäre man wahrscheinlich binnen zwei bis drei Tagen an der Ostsee."

Die Rolle der Nato

Die baltischen Länder müssten sich im Ernstfall also auf die Nato verlassen. Ohnehin bestimme vor allem die Allianz die Situation in Osteuropa, meint Rüstungsexperte Ulrich Kühn. "Man muss eher schauen: Was machen die großen Nato-Länder?" Zunächst einmal tun sie alles, um die kleineren Bündnispartner zu beruhigen. Erst vor einigen Wochen fuhr ein US-Panzerkonvoi durch das Baltikum, Polen und Tschechien – eine 1.800 Kilometer lange Militärparade. "Das war eine Showmaßnahme", sagt Rüstungsexperte Ulrich Kühn. "Die Nato richtet sich damit nicht an Russland, sondern nach innen." Die Botschaft: Im Bündnisfall steht die Nato sofort bereit. Auch hält die Nato immer mehr Manöver in Osteuropa ab.

Truppen in nennenswerter Zahl kann die Allianz allerdings nicht in dem Gebiet halten. 1997 hat sie sich in der "Nato-Russland-Grundakte" verpflichtet, dauerhaft keine "nennenswerten Kampftruppen" auf dem Gebiet ehemaliger Warschauer-Pakt-Staaten zu stationieren. Deswegen beschloss die Nato auf dem Gipfel in Wales ein Rotationsprinzip. Würde die Nato zu einer festen Stationierung übergehen, würde das den Konflikt mit Russland erheblich verstärken, sagt Kühn. Deswegen müsse das Signal lauten: "Wir stehen zusammen, wir investieren zusammen, aber wir lassen den Gesprächsfaden nach Moskau nicht abreißen."

Denn der russische Generalstab verfolge die Manöver und die Aufrüstung ganz genau. "Das Problem für Russland ist dabei nicht so sehr die Aufrüstung in den einzelnen Staaten, sondern die Masse, die die Nato mitbringt." Zwar stellt Moskau ohne Zweifel eine militärische Großmacht dar – 2014 gab Russland 91,6 Milliarden Dollar aus, nur China und die USA haben einen größeren Militärhaushalt. Insgesamt ist die Nato Russland allerdings quantitativ überlegen, "ungefähr im Verhältnis 3:1", wie Ulrich Kühn schätzt. "Qualitativ lässt es sich gar nicht ausdrücken. Aber die Nato verfügt über ein überlegenes Arsenal an Rapid Response Forces (schnelle Eingreiftruppen, die Red.) - man denke nur an die Fallschirmjäger in Brigadenstärke, die innerhalb von zwei Tagen überall einrücken können."

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