Während die ukrainische Armee in der Region Kursk weiter vorrückt, bleiben Moskaus militärische Reaktionen begrenzt. Tausende Russen fliehen, während Putin Schutzbunker bauen lässt. Russland-Experte Janis Kluge sieht darin ein Zeichen dafür, dass der Kreml die Bedeutung der Offensive herunterspielt und erklärt, warum Putin das Thema nicht zur Chefsache machen will.
Die Region Kursk erlebt intensive Kämpfe, während Moskau auf Evakuierungen und symbolische Hilfszahlungen setzt. Der Politikwissenschaftler Janis Kluge erklärt, warum
Unübersichtlich, undurchsichtig und für Putin – so scheint es – unbedeutend. Die ukrainische Armee meldet weitere Fortschritte in der russischen Grenzregion Kursk, wo sie mehrere Brücken über den Fluss Sejm beschädigt oder zerstört haben will. Die Ukrainer stehen wohl kurz davor, Tausende russische Soldaten einzukesseln. Die Offensive in Kursk dauert bereits seit etwa drei Wochen an, und tausende russische Zivilistinnen und Zivilisten sind auf der Flucht. Moskau plant den Bau von Schutzbunkern, zeigt aber militärisch kaum Widerstand gegen die ukrainischen Angriffe.
Moskaus Politik zeigt sich wenig beeindruckt
Einen militärischen Übertritt in russisches Staatsgebiet hatte es zuletzt im Zweiten Weltkrieg gegeben, dennoch zeigen sich sowohl die russische Armee als auch Moskaus Politik wenig beeindruckt. Doch Russland-Experte Janis Kluge geht schon davon aus, dass die Offensive in Kursk ein Problem für den russischen Präsidenten Wladimir Putin darstellt. Nur nicht so sehr, wie es der Westen vielleicht gehofft hatte.
Man erkenne an den vielen Meetings, die es dazu gab, dass die Invasion eine Bedeutung habe, erklärt Kluge im Gespräch mit unserer Redaktion. "Natürlich setzt der Kreml viel daran, diese Invasion der Ukrainer rückgängig zu machen. Allerdings hat das nicht eine so hohe Priorität, wie wir das im Westen vielleicht vermuten würden."
Die derzeitige Reaktion: öffentlichkeitswirksame Treffen, bei denen sich Putin informieren lässt, Evakuierungen und Zahlungen an die Betroffenen. "Der Staat versucht, Aktivität zu zeigen. Aber gleichzeitig ist es auch nicht die große Staatskrise, die man hierzulande erwartet hätte", sagt der Experte.
Kluge sagt: "Die Region Kursk ist für viele Menschen in Russland relativ weit weg und sie nehmen ähnlich wenig Anteil daran wie am Schicksal der Ukraine. Sie blenden diese bedrohlichen, unerfreulichen, unbequemen Ereignisse weitestgehend aus."
Ist die Region Kursk für den Rest von Russland also egal? Nicht unbedingt, meint Kluge, aber eben auch nicht so wichtig. "Das lässt sich dadurch erklären, wie die Bevölkerung im Allgemeinen mit diesem Krieg umgeht", sagt er. Seit September 2022 gebe es viele Gebiete, die aus Moskaus Sicht russisches Staatsgebiet seien, die aber nicht von Russland kontrolliert werden.
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Damit meint Kluge ukrainische Gebiete, die Russland bei der Invasion 2022 annektiert hatte, die allerdings von der ukrainischen Armee im Herbst des gleichen Jahres befreit wurden. Etwa in der Region Charkiw oder in Cherson. Aus russischer Sicht gehören diese Gebiete zu Russland und nicht zur Ukraine.
"Das heißt, diese Situation, in der Russland staatliches Territorium hat, das es nicht kontrolliert und um das gekämpft wird – diese Realität war auch schon vorher gegeben. Und das bedeutet wiederum, dass diese ukrainische Kontrolle über russisches Staatsgebiet in Kursk für Russland nun kein Präzedenzfall ist." Kein Tabubruch, keine rote Linie. Kursk gilt als ähnlich unwichtig wie die Regionen im Donbass. "Und die Reaktion des Kremls zeigt, dass nicht erwartet wird, dass die Ukraine schnell zurückgedrängt werden kann. Kursk ist jetzt einfach Teil dieses Gesamtkrieges."
In westlichen Medien lesen wir viel darüber, wie sehr die Ukraine Russland mit ihrer Invasion blamiert hat. Gleichzeitig halten sich russische Beamte zurück und verweisen auf offizielle Mitteilungen des Kremls. Ist das eine Reaktion auf diese Blamage, die der Westen diagnostiziert? Kluge sagt: Politikerinnen und Politiker auf regionaler Ebene oder niederrangige Funktionäre in Moskau verhielten sich in den meisten Situationen eher still, wenn diese potenziell politisch heikel sind. Dies sei auch mit ein Grund, warum die Lage in Kursk für Putin weniger problematisch sei.
"Denn es gibt eben diese Mechanismen, mit so etwas umzugehen. In Situationen, in denen vielleicht nicht ganz klar ist, wie der Kreml darüber sprechen will oder auch, wie viel problematisiert werden darf, ist es üblich, dass es nur sehr zurückhaltende Äußerungen gibt."
Auch ein explizit angeordneter Maulkorb sei denkbar, meint der Experte. "In Russland gibt es oft diese Dynamik: Wenn irgendwo etwas passiert, gibt es von vor Ort Notrufe im Sinne von 'Putin, hilf uns'. Wenn Putin dann nicht helfen kann, lässt ihn das machtlos und schwach wirken." Es sei also sehr wahrscheinlich, dass man zu deutliche Hilferufe zu verhindern versuche.
Hilfsleistungen für Betroffene von umgerechnet rund 100 Euro
Putin hat den Betroffenen allerdings eine Hilfsleistung von 10.000 Rubel zugesichert. Das sind umgerechnet rund 100 Euro. Bezieht man die Kaufkraft innerhalb dieser Region mit ein, sind diese 100 Euro zwar deutlich mehr wert als etwa hierzulande. Dennoch ist diese Finanzspritze keine Entschädigung für den Verlust von Haus und Hof. "Im ersten Moment ist das also eher ein symbolischer Betrag", meint Kluge. "Eine kleine Soforthilfe, um zu zeigen, dass der Staat etwas tut."
Es hat den Anschein, als sei die Situation im Westen seines Landes für Putin nicht wirklich von Bedeutung. Er reist viel, etwa nach Aserbaidschan, nach Tschetschenien, er trifft sich im Kreml mit Verbündeten wie etwa dem chinesischen Ministerpräsidenten Li Qiang. Kursk ist bei diesen Terminen kein Thema.
Kluge geht davon aus, dass der russische Präsident mit diesen Reisen und Meetings zeigen möchte, dass er nicht in Panik gerät. Business as usual. "Er geht damit auf Abstand, denn das ist eine Krise, die er nicht lösen kann", erklärt der Experte. "Er will sich in siegreichen Operationen eingemischt haben oder in hochrangigen Treffen positionieren. Er wird dann erst in die Region reisen, wenn die russische Armee dort Fortschritte gemacht hat." Doch bis dahin will man demnach im Kreml die Aufmerksamkeit gering halten.
Putin würde der Invasion eine zu große Bedeutung beimessen, wenn er selbst hinreisen würde. "Er will das Thema nicht zur Chefsache erklären, weil das eine Anerkennung der Katastrophe wäre. Gleichzeitig kann er die Verantwortung abtreten." Denn wenn etwas schiefläuft, sind dann eben die anderen schuld. Die lokalen und regionalen Autoritäten. Mit negativen Konsequenzen wird der Präsident nicht in Verbindung gesetzt.
Über den Gesprächspartner
- Dr. Janis Kluge ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe "Osteuropa und Eurasien" bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Zu den Arbeitsschwerpunkten des Wirtschaftswissenschaftlers zählen russische Innenpolitik, Russland und China, die wirtschaftliche Entwicklung Russlands sowie Sanktionen und ihre Wirkung.
Verwendete Quellen
- Telefonat mit Janik Kluge
- Zdf.de: Welches Signal Putin mit Baku-Trip setzen will
- Euronews.com: Putin seit 13 Jahren erstmals in Tschetschenien: Russlands Präsident braucht Hilfe
- Welt.de: Rohstofflieferant für Peking – Russland und China vertiefen Handel im Energiesektor
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