Auf Twitter verbreitet sich ein Video, das den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bei einer Pressekonferenz zeigt. Dort sagte er, die USA müssten "ihre Söhne und Töchter" in den Krieg schicken. Selenskyj sprach dabei jedoch nicht von der Ukraine. Er bezog sich darauf, dass die USA einschreiten müssten, falls Russland Nato-Mitglieder angreife.

"Selenskyj ist ein gefährlicher Soziopath, der will, dass Ihre Kinder seinen Krieg führen", heißt es in einem Twitter-Beitrag zu einem 19-sekündigen Videoausschnitt. Darin sagt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj laut englischer Übersetzung: "Die USA werden ihre Söhne und Töchter in den Krieg schicken. Und sie werden kämpfen müssen, weil wir über die Nato sprechen, und sie werden sterben." Die Beiträge wurden bei Twitter auf Deutsch und Englisch über 800.000 Mal aufgerufen.

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Doch die Aussage Selenskyjs wird verkürzt dargestellt und falsch interpretiert. Er sagte bei einer Pressekonferenz am ersten Jahrestag von Russlands Einmarsch in die Ukraine in Kiew: Sollte die Ukraine den Krieg verlieren, werde Russland Nato-Mitgliedsstaaten im Baltikum angreifen und die USA müssten in einem solchen Fall "ihre Söhne und Töchter [in den Krieg] schicken". Davon, dass die USA Soldatinnen und Soldaten in die Ukraine schicken müssten, sprach er nicht.

verkürzter Videoausschnitt von Selenskyjs Aussage
Auf Twitter kursiert ein verkürzter Videoausschnitt von Selenskyjs Aussage bei einer Pressekonferenz am 24. Februar 2023 in Kiew. © Quelle: Twitter; Screenshot und Schwärzung: CORRECTIV.Faktencheck

Verkürztes Video von Selenskyjs Aussage stammt von einer Pressekonferenz am 24. Februar 2023

Wir haben in dem Kurzvideo nach Hinweisen gesucht, woher es stammt: Die Kameraperspektive im Videoausschnitt wechselt ab Sekunde 11 von einer Nahaufnahme Selenskyjs zu einem größeren Bildausschnitt; der Präsident spricht vor einem Publikum und an der Wand hinter ihm steht auf Ukrainisch: "ЛЮТИЙ. РІК НЕЗЛАМНОСТІ" (übersetzt mit dem Online-Übersetzer DeepL: "Februar. Das Jahr der Unbesiegbarkeit"). Eine Google-Suche mit diesen Stichworten führt uns zu einem Artikel der ukrainischen Nachrichtenagentur Ukrinform über eine Pressekonferenz am 24. Februar 2023. Ukrinform filmte die Konferenz live in Kiew und veröffentlichte das Video von etwa 2 Stunden und 20 Minuten auf YouTube.

Faktencheck Videoausschnitt "The Telegraph"
Ab Sekunde 11 wechselt der Videoausschnitt zu einer anderen Perspektive, in der ukrainische Worte zu erkennen sind und das Logo der britischen Tageszeitung The Telegraph. Diese geben Hinweise darauf, woher das Originalvideo stammt. © Quelle: Twitter; Screenshot und Markierungen: CORRECTIV.Faktencheck

Ein weiterer Hinweis auf den Ursprung des Videoausschnitts ist das Wasserzeichen oben rechts im Bild; es gehört der britischen Tageszeitung "The Telegraph". Eine Google-Suche nach den Stichworten "press conference", "Selenskyj" und "Telegraph" führt zu einem weiteren YouTube-Video mit dem Titel: "Volodymyr Zelenksy press conference on first anniversary of Ukraine’s war with Russia".

Laut der Videobeschreibung hat "The Telegraph" die Pressekonferenz ebenfalls am 24. Februar 2023 live bei YouTube übertragen. In der Aufnahme ist dieselbe Dolmetscherin zu hören wie in dem Videoausschnitt in sozialen Netzwerken.

Selenskyj bezog sich auf den Nato-Bündnisfall, sollte Russland die baltischen Staaten angreifen

Tatsächlich sagte Selenskyj bei der Pressekonferenz, das, was sich in sozialen Netzwerken verbreitet (ab Stunde 1:40). Doch wesentlicher Kontext fehlt: Mit seiner Aussage reagierte er auf die Frage eines Mannes (ab Stunde 1:31): "Herr Präsident, Umfragen in den USA zeigen, dass eine stetig wachsende Zahl der Amerikanerinnen und Amerikaner denkt, dass die Ukraine zu viel Hilfe bekommt. Was ist Ihre Botschaft, zum Jahrestag des Krieges, an diese Amerikanerinnen und Amerikaner?"

Selenskyj antwortete darauf unter anderem (ab Stunde 1:39): "Die USA werden die Nato-Mitgliedsstaaten niemals aufgeben. Sollte es passieren, dass die Ukraine aufgrund verschiedener Meinungen, Schwächung und Ausbleiben von Unterstützung verliert, wird Russland in die baltischen Staaten, Nato-Staaten, eindringen, und dann werden die USA ihre Söhne und Töchter schicken müssen, wie wir unsere Söhne und Töchter in den Krieg schicken."

Weiter sagte er (ab Stunde 1:40): "Sie werden kämpfen müssen, weil wir über die Nato sprechen, und sie werden sterben, Gott bewahre, denn es ist eine schreckliche Sache, ich wünsche den Vereinigten Staaten Frieden und ukrainische Unterstützung."

Nato-Bündnisfall: Bei Angriff auf Nato-Staaten müssten USA militärisch eingreifen

Die Nato ist ein Verteidigungsbündnis von europäischen und nordamerikanischen Ländern, zu dem die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen gehören. Die Nachrichtenagentur AFP berichtete in einem Faktencheck, dass US-Präsident Joe Biden unter Berufung auf das gegenseitige Verteidigungsabkommen versprochen habe, "jeden Zentimeter der Nato zu verteidigen". Die Ukraine hat laut Medienberichten am 30. September 2022 eine beschleunigte Mitgliedschaft in der Nato beantragt, die bis Mitte März 2023 noch nicht genehmigt wurde.

Mit seiner Aussage bezog sich der ukrainische Präsident auf ein Szenario, das bis zu einem Jahr nach Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine nicht eingetreten ist: den sogenannten "Nato-Bündnisfall". Dieser ist in Artikel 5 des Nordatlantikvertrags, dem Gründungsdokument der Nato, festgeschrieben. Dort heißt es: "Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird."

Daraus folgt, wie es im Vertrag weiter heißt, dass sich die Vertragsparteien gegenseitig Beistand leisten, "indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten".

Fazit: Selenskyj forderte in dem Videoausschnitt von der Pressekonferenz am 24. Februar 2023 in Kiew nicht, dass die USA Soldatinnen und Soldaten in den Krieg in der Ukraine schicken. Vielmehr wies er darauf hin, dass die USA militärischen Beistand leisten müssten, wenn Russland Nato-Mitgliedsstaaten angreifen würde.

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