Nach dem öffentlichen Zerwürfnis zwischen Donald Trump und Wolodymyr Selenskyj sieht die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff Europa vor großen Aufgaben: Es müsse schnell die Unterstützung der Ukraine organisieren und die eigene Verteidigung stemmen.
Die Bilder dürften in die Geschichte eingehen: Am Freitag haben US-Präsident
Nicht nur in der Ukraine sitzt der Schock tief. Auch in Europa ist man alarmiert. Nicole Deitelhoff, Professorin an der Universität Frankfurt und Leiterin des Leibniz-Instituts für Friedens- und Konfliktforschung, sagt im Interview unserer Redaktion: "Die USA verstehen sich nicht mehr als Teil des transatlantischen Bündnisses." Und das müsse Folgen haben.
Frau Deitelhoff, haben Sie die Bilder aus dem Weißen Haus am Freitagabend geschockt?
Nicole Deitelhoff: Mich hat geschockt, dass sich Trump und Vance eine öffentliche Bühne dafür ausgesucht haben. Den Präsidenten der Ukraine vor der Presse derartig zu demütigen und seine Unterwerfung zu fordern, war eine Schande für die Diplomatie. Wenn man sich aber die Äußerungen von Trump und Vance der vergangenen Wochen anschaut, dann war vorher schon klar: Die große Zeit der US-Unterstützung für die Ukraine ist vorbei.
Welche Folgen kann dieser 28. Februar 2025 für die Sicherheit in Europa haben?
Der Moment selbst hat keine Folgen. An ihm wird aber etwas deutlich: Die USA verstehen sich nicht mehr als Teil des transatlantischen Bündnisses. Das war schon klar, als Vizepräsident Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz durchblicken ließ, man sei nicht sicher, ob man tatsächlich für Europa kämpfen würde, wenn Europa ganz andere Werte vertrete als die USA. Die Folge dieses Abends muss sein, dass Europa endlich handelt.
Und wie?
Europa muss jetzt schnell viel politischen Willen mobilisieren, um die Verteidigung der Ukraine zu unterstützen. Die Ukraine braucht ein großes Paket: Da geht es immer noch um Munition, aber auch um mehr Flugabwehr und Nachschub für defekte Systeme. Falls die US-Regierung wirklich alle Waffenlieferungen einstellt, muss Europa in der Lage sein, zumindest die schlimmsten Lücken zu füllen. Europa muss aber auch die eigene Verteidigung endlich stemmen. Die Staaten müssen in gemeinsame Rüstung investieren und sich auf eine gemeinsame Ausstattung einigen. Damit nicht mehr jeder sein eigenes Süppchen kocht.
"Bei diesem Präsidenten würde ich mich nicht auf die Nato-Beistandsgarantie verlassen."
Der Kern der europäischen Sicherheit war eigentlich der Beistandspakt der Nato: Wenn ein Mitgliedsstaat angegriffen wird, springen die anderen ihm bei. Kann man sich darauf bei der aktuellen US-Regierung noch verlassen?
Ich würde mich nicht darauf verlassen, und ich glaube auch, dass keiner der anderen Nato-Staaten sich momentan darauf verlässt. Aus Trumps Äußerungen der vergangenen Wochen spricht nicht nur eine Feindschaft gegenüber der Ukraine. Er hat behauptet, die Europäische Union sei angeblich nur gegründet worden, um die USA über den Tisch zu ziehen. Daraus spricht auch eine Feindschaft gegenüber Europa. Deshalb: Bei diesem Präsidenten würde ich mich nicht auf die Nato-Beistandsgarantie verlassen.
Bisher haben europäische Politiker aber immer betont: Ganz ohne die USA geht es nicht – weder die Unterstützung der Ukraine noch die Gewährung von Sicherheit in Europa.
Zum Teil sehe ich das anders. Natürlich kommt man nicht über Nacht von 0 auf 100. Das gilt insbesondere für den nuklearen Schutzschirm. Sollten sich die USA mit ihrem Schutzschirm zurückziehen, stehen wir in gewisser Weise blank da. Die nuklearen Kapazitäten von Frankreich und Großbritannien reichen nicht aus für eine ernsthafte Abschreckung. Europa muss darüber nachdenken, wie es diese Abschreckung auch ohne die USA aufbauen kann. Aber das wird Jahre oder Jahrzehnte dauern. Ziel muss es sein, einen Deal mit den USA zu finden, in dem sie noch so lange eine nukleare Abschreckung bereitstellen, bis Europa in der Lage ist, sie zu ersetzen.
Und darüber hinaus?
Im konventionellen Bereich haben wir kleinere Probleme. Kurzfristig lassen sich Rüstungsgüter auf dem Weltmarkt einkaufen. Wichtig ist aber, auch die eigene Rüstungsindustrie schnell hochzufahren. Auch um den Bevölkerungen deutlich zu machen, dass das auch wirtschaftliche Impulse setzt und Jobs schafft.
Vielen Menschen macht die Forderung nach Aufrüstung allerdings vor allem Angst. Sind diese Schritte überhaupt politisch durchsetzbar?
Das ist tatsächlich eine große Herausforderung. Ich komme selbst aus der Friedens- und Konfliktforschung und manchmal staune ich, wie selbstverständlich ich inzwischen von Aufrüstung und nuklearer Abschreckung in Europa spreche. Aber ich kann ja nicht die Bedrohungslage ignorieren. Zu lange haben viele Regierungen so getan, als sei der Krieg in der Ukraine etwas, was man noch mit ein bisschen Durchhalten hinbekommt – und danach ist wieder alles wie vorher. Das ist nicht der Fall. Faktisch befinden wir uns bereits in einem hybriden Krieg.
Inwiefern?
Wir sind schon jetzt jeden Tag Angriffen von Seiten Russlands ausgesetzt. Das entspricht nicht der klassischen Definition eines Krieges, aber nicht nur Cyber-Angriffe oder zerstörte Unterwasserkabel zeigen: Wir werden Tag für Tag angegriffen. Die Politik muss der Bevölkerung deutlich machen: Wir müssen jetzt in unsere Sicherheit investieren, damit es bei diesen hybriden Angriffen bleibt und wir nicht tatsächlich physisch angegriffen werden.
Über die Gesprächspartnerin
- Prof. Dr. Nicole Deitelhoff hat Politik-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in Darmstadt und Buffalo (USA) studiert. Sie ist Professorin für Internationale Beziehungen und Theorien Globaler Ordnungen an der Goethe-Universität Frankfurt und zudem geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Leibniz-Instituts für Friedens- und Konfliktforschung (PRIF). Sie beschäftigt sich unter anderem mit Normen und Institutionen der internationalen Beziehungen und Herrschaft und Widerstand in der globalen Politik.