Schlagabtausch der Wissenschaften bei "Hart aber fair": Während ein Epidemiologe bei der Impfpflicht endlich "zu Potte kommen" will, warnt ein Medizinhistoriker vor gravierenden gesellschaftlichen Nebenwirkungen. Gastgeber Frank Plasberg provoziert derweil die Vertreter der Ampel.

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Durchrauschen? Durchlaufen? Durchseuchen? Egal, auf welchen Begriff man es bringen will: Die Omikron-Variante wird wohl früher oder später einen Großteil der deutschen Bevölkerung infizieren. "Widerstand ist zwecklos", so drückt es Moderator Frank Plasberg am Montagabend bei "Hart aber fair" aus.

So einfach die Anamnese, so kompliziert die Suche nach den richtigen Schlussfolgerungen. Ist jetzt der Moment für den Schritt zurück in die Normalität gekommen? Sind die Pläne für die Impfpflicht schon Makulatur? Diese Fragen diskutiert Plasberg mit seiner Runde unter dem Titel: "In der Omikronwelle: Was bringt eine Impfpflicht?"

Während ein Medizinhistoriker "erschreckende" Parallelen zwischen den Impfgegnern von einst und heute aufzeigt, dämpft ein Epidemiologe die Hoffnungen auf ein schnelles Ende der Pandemie dank Omikron.

Das sind die Gäste bei "Hart aber fair"

Malu Dreyer (SPD) "widerstrebt" die Impfpflicht zwar, sie sehe aber keine andere Möglichkeit mehr, die Pandemie endlich zu beenden. Vor einigen Monaten hatte Rheinland-Pfalz' Ministerpräsidentin die Pflicht noch ausgeschlossen – ein Fehler, sagt sie: "Ich würde mich nicht mehr so absolut festlegen."

Christine Aschenberg-Dugnus, gesundheitspolitische Sprecherin der FDP, erinnert an die Ziele der Maßnahmen: Todesfälle und Triagen verhindern. Dafür brauche es aber keine Impfpflicht: "Das erreichen wir auch mit leichteren Eingriffen."

"Zu Potte kommen" will Timo Ulrichs, Epidemiologe an der Berliner Hochschule für Humanwissenschaften. Er fürchtet, dass ein langes Zögern die Vorbereitung auf den nächsten Herbst erschwert: "Und dann gehen wir ins Nachsitzen, dann kommen wir nicht in die endemische Phase."

"Die Impfpflicht ist eine Panikaktion, die ihr Ziel nicht erreichen wird", meint Journalist Michael Bröcker. Lieber solle die Politik sich darauf verlegen, mit dem Virus zu leben, statt Maßnahmen zu treffen, die "zu spät kommen und verfassungsrechtlich unsauber sind".

Für Medizinhistoriker Malte Thießen hatte eine Impfpflicht schon immer zu viele Nebenwirkungen: "Die Geschichte der Impfpflicht ist keine Erfolgsgeschichte, eher im Gegenteil".

Das ist der Moment des Abends

In der Liste der "Sexiest Jobs" rangieren Historiker nicht besonders weit oben. Wer wie Malte Thießen in Archiven wühlt, um 150 Jahre alte Impfzertifikate auszugraben, tut das normalerweise für eine sehr überschaubare Zielgruppe. Außer, es ist Pandemie, und der Historiker findet spannende Parallelen zwischen dem Widerstand gegen die Pockenimpfung Anfang des 19. Jahrhunderts und den Impfgegnern von heute.

Damals wie heute ging es nicht um den Pieks, erklärt Thießen, sondern um Politik: "Es ist nur ein Ventil, um politisch zu mobilisieren." Und damit: austauschbar. Was heute die Impfpflicht, waren 2020 die Kontaktbeschränkungen und 2015 die Geflüchteten.

Die Impfungen selbst betrachtet Thießen als "Opfer ihrer Erfolge" - gerade weil etwa Tuberkulose oder die Diphterie aus unserem Alltag verschwunden sind, konzentriere sich die Diskussion auf die Nebenwirkungen der Impfung statt auf das Risiko einer Infektion.

Von einer Impfpflicht rät der Historiker ab, wegen der "schweren Nebenwirkungen": Die Erfahrung zeigten, dass sich Impfgegner eher nicht überzeugen lassen, auch nicht von den Strafen. Und vor allem: "Es ist eine Kultur des Misstrauens, die mit der Erfolgsgeschichte der Freiwilligkeit in Deutschland bricht."

"Spannend", staunt der Gastgeber, die Runde hört so andächtig und verzückt zu, dass sich Thießen wohl schon ein bisschen fühlen muss wie Leonardo di Caprio in "Don't Look Up" als Astrophysiker Dr. Randall Mindy, der vom scheuen Nerd mit abseitigen Forschungsinteressen zum Popstar mit Sexappeal wird. Achtung, Spoiler: Wirklich zugehört hat Mindy niemand, es endet, nun ja, mit dem Ende.

Das ist das Rede-Duell des Abends bei "Hart aber fair"

Es sind aber auch wirklich denkbar schlechte Neuigkeiten, die Leonardo di Caprio alias Dr. Mindy in "Don't look up" parat hat – und die wollen viele Menschen einfach nicht hören. Vor allem nicht, und da sind wir wieder in der Realität und der Corona-Pandemie, wenn es seit zwei Jahren ausschließlich schlechte Neuigkeiten gibt.

Omikron scheint vielen in dieser Situation als Lichtblick: hochinfektiös, aber relativ harmlos im Vergleich zur Delta-Variante. Also nix wie anstecken, und fertig ist die Herdenimmunität? Zumindest biete Omikron die Chance, in eine endemische Lage zu kommen, meint der Journalist Michael Bröcker: "Es ist nicht mehr so schlimm wie in der Anfangszeit. Wir müssen jetzt versuchen, zur Normalität zurückzukehren."

Ähnlich argumentiert FDP-Gesundheitssprecherin Christine Aschenberg-Dugnus, die "die Balance zwischen Gesundheitsschutz und Freiheit" neu austarieren möchte – und zwar ohne Impfpflicht. Anders gesagt: Durchrauschen lassen jetzt!

"Das ist ja alles schön, was Sie sagen", entgegnet Epidemiologe Timo Ulrichs. "Das kann man auch alles machen – wenn wir eine Situation hätten wie in Spanien." Haben wir aber nicht, weil die Impfquote zu gering ist.

Dazu komme die große Unbekannte Long Covid – und das Anrecht von Nicht-Corona-Patienten auf eine Behandlung im Krankenhaus. Das Durchrauschen könne sich Deutschland deswegen "jetzt und im laufenden Jahr nicht leisten".

So hat sich Frank Plasberg geschlagen

Ob die Impfpflicht kommt oder nicht, entscheidet nicht die Koalition – sondern die Abgeordneten des Bundestags, in freier Gewissensentscheidung. Plasberg, dem die Sendung sonst offenbar zu pädagogisch geraten ist, wittert den wahren Grund dafür in der drohenden "Blamage" für die Ampel. Ein Vorwurf, den Christine Aschenberg-Dugnus empört zurückweist: "Das nenne ich Demokratie und Transparenz."

"Bin ich da böse, wenn ich das so sage?", fragt Plasberg scheinheilig – und gibt das Wort an Michael Bröcker, einen Verbündeten in dieser Causa. "Eine Schutzbehauptung", urteilt der Journalist. "So zu tun, als sei es so eine große ethische Frage, das finde ich nicht redlich."

Das ist das Ergebnis

Die intensiven 75 Minuten beweisen zwei Dinge: Erstens lässt sich in der Sache erbittert, aber mit Respekt für die verschiedenen Positionen diskutieren, und das sogar noch mit Erkenntnisgewinn. Zweitens bleiben die Fronten trotzdem verhärtet.

Beispiel Virusmutationen: Für Michael Bröcker liegt in der Unsicherheit, welche Varianten uns im Herbst 2022 erwarten, das "zentrale Argument gegen die Impfpflicht" - weil die Wirksamkeit einfach nicht absehbar sei. Epidemiologe Ulrichs interpretiert die Möglichkeit neuer Varianten genau andersherum: "Es ist ein Argument für die Impfpflicht, weil wir alles tun müssen, damit wir uns schon auf den Herbst vorbereiten."

Viel Stoff also – und der Bundestag befindet sich ja erst in der "Orientierungsphase". Wenn die ersten Vorschläge auf dem Tisch liegen, geht die Diskussion erst richtig los – gern so konstruktiv wie bei "Hart aber fair".

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