Bundesgesundheitsminister Jens Spahn muss sich bei Anne Will dem Vorwurf des Managementversagens stellen. Ausgerechnet Christian Lindner nimmt den Bundesgesundheitsminister vor zu viel Kritik in Schutz.

Eine Kritik
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Es gibt einen Silberstreif am Corona-Horizont. Die Inzidenzzahlen in ganz Deutschland sinken beständig. Mehr als 40 Prozent der Bundesbürgerinnen und -bürger haben ihre erste Impfdosis erhalten.

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Doch Deutschland wäre nicht Deutschland, wenn es nicht trotzdem viel zu klagen und kritisieren gäbe: Betrug bei Schnelltest-Anbietern, Frust bei der Suche nach Impfterminen, Verunsicherung über die Impfung von Kindern und Jugendlichen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn muss sich am Sonntag in der Talkshow von Anne Will gleich auf mehreren Fronten verteidigen.

Das sind die Gäste bei "Anne Will"

Jens Spahn: Der Bundesgesundheitsminister (CDU) will an diesem Abend nicht über Fehler sprechen. "Ich habe seit Anfang der Pandemie gemerkt: Egal was ich entscheide oder nicht entscheide - es wird immer von einigen als Fehler genommen."

Christian Lindner: Der FDP-Vorsitzende kritisiert, dass immer noch viel über Inzidenzzahlen diskutiert werde und Politiker ständig neue Grenzwerte ins Spiel bringen. "Man hat den Eindruck: Je stärker das Pandemie-Geschehen unter Kontrolle ist, desto niedriger müssen die Zahlen sein, damit man überhaupt noch über eine Öffnung sprechen darf."

Janosch Dahmen: Der Arzt und Bundestagsabgeordnete der Grünen macht sich nicht nur Sorgen um Betrug bei Anbietern, die zu viele Schnelltests abrechnen. Die Tests müssten vor allem richtig durchgeführt werden: "Ein Test, der zwei Sekunden kurz in die Nase gesteckt wird und bei dem schon nach 30 Sekunden gesagt wird, Sie sind negativ – das ist kein valide durchgeführter Test."

Christina Berndt: "Es ist an vielen Stellen nicht genau genug hingeschaut worden", kritisiert die Wissenschaftsredakteurin der "Süddeutschen Zeitung" die möglichen Betrügereien von Schnelltest-Anbietern. Dass sie jetzt doch ans Licht gekommen sind, sei nicht das Verdienst der Bundesregierung: "Ohne die journalistische Arbeit meiner Kollegen wäre das nicht aufgefallen."

Das ist das Rededuell des Abends

Das umstrittenste Thema ist die geplante Aufhebung der Impf-Priorisierung: Ab 7. Juni soll sich nach dem Willen des Bundesgesundheitsministers jede und jeder in Deutschland um einen Impftermin bemühen dürfen. Eine Entscheidung, die die Journalistin Christina Berndt "überhaupt nicht nachvollziehen kann": "Wir haben noch so viele Menschen, die in die bedürftige Priorisierungsgruppe 3 gehören, die noch kein Impfangebot, noch keine Impfung in Aussicht haben."

Nun aber eröffne die Regierung ein "Windhundrennen" um die spärlichen Dosen, bei dem die Arztpraxen überrannt werden. Zudem gebe es noch mindestens sechs Millionen Menschen in der Altersgruppe 60 bis 69, die noch nicht versorgt sind. Außerdem zwölf Millionen Vorerkrankte. "Die brauchen diese Impfung - und zwar stärker als die Jüngeren", so Berndt.

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Spahn aber bleibt bei seinem Kurs. 80 Prozent der über 60-Jährigen seien bald ein erstes Mal geimpft. Die Erfahrung zeige zudem, dass die Hausärzte zunächst die Patienten versorgen, die gefährdet sind. "Irgendwann muss man den Punkt definieren, wo man den nächsten Schritt geht." Berndt ist davon aber nicht überzeugt: Zumindest in den Impfzentren fände sie es besser, länger an der Priorisierung festzuhalten.

Das ist der Moment des Abends

Aufschlussreich ist der betont staatsmännische Auftritt von Christian Lindner. Der FDP-Chef ist zwar Oppositionspolitiker, scheint sich aber schon kräftig aufs Regieren vorzubereiten. Den Bundesgesundheitsminister verteidigt er gegen den Vorwurf des "Managementversagens", den nicht nur Moderatorin Anne Will und die SPD erheben.

Lindner findet: "Die Öffentlichkeit, die Medien, die Opposition können die Regierung nicht immer mehr und stärker zu immer schnellerem Handeln in der Pandemie veranlassen - und wenn die Regierung dann unbürokratisch schnell, unternehmerisch handelt, legt man im Nachhinein die Maßstäbe an, als müsste alles schon perfekt durchdacht gewesen sein."

Noch eine Kostprobe von Lindners Lust aufs Regieren: Beim Thema Impfen hat er schon einen Plan im Gepäck, mit dem das Land möglichst schnell vorankommen soll: Erstens alle Reserven verimpfen, statt Dosen für die zweite Impfung zurückzuhalten. Zweitens den Zeitpunkt zwischen Erst- und Zweitimpfung strecken. Drittens nicht genutzte Astrazeneca-Dosen aus Dänemark aufkaufen. Ob das funktionieren kann? Lindner wird es nicht beweisen müssen - das ist das Schöne an der Opposition.

Das ist das Ergebnis

Häufig driftet die Diskussion ins Kleingedruckte ab. Zudem hätte es der Runde gutgetan, wenn ein Gast aus der Praxis seine Perspektive beigesteuert hätte: etwa eine niedergelassene Ärztin oder ein Kindermediziner.

Jens Spahn schlägt sich in seinen Abwehrkämpfen wechselhaft. Er fährt nicht aus der Haut - auch nicht, als Anne Will ihm die provokante Frage stellt: "Warum passiert Ihnen das immer wieder, dass Sie Versprechen geben, die Sie nicht halten können?" Es scheint, als habe sich der Gesundheitsminister in der Pandemie ein dickes Fell zugelegt.

Die Verunsicherung bei der Impfung von Kindern und Jugendlichen kann der Christdemokrat allerdings nicht komplett auflösen. Was die Bundesregierung in dieser Frage eigentlich genau will, bleibt auch nach Spahns Ausführungen undeutlich. Klar wird allerdings, dass wenig dafür spricht, jetzt schnell die 12- bis 18-Jährigen zu impfen.

Da die meisten Minderjährigen nicht schwer an COVID-19 erkranken, haben Ältere die Impfung nach Ansicht von Journalistin Christina Berndt nötiger. Und Grünen-Politiker Janosch Dahmen findet: "Wenn wir sichere Bildung wollen, dann wird es nicht über die Impfung gehen." Wichtiger seien da vor allem: stabil niedrige Fallzahlen.

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