In mehreren Regionen Ostdeutschlands boomt die Wirtschaft. Carsten Schneider, Ostbeauftragter der Bundesregierung, sieht eine große Chance auf eine wirtschaftliche Renaissance. Im Interview mit unserer Redaktion spricht er über die Stärken des Ostens – aber auch über hartnäckige Vorurteile mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung.

Ein Interview

Herr Schneider, hatte der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl recht, als er den Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung "blühende Landschaften" versprach?

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Carsten Schneider: Verglichen mit 1989 hat sich Ostdeutschland hervorragend entwickelt. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Vor 30 Jahren hat man die Pleiße in Leipzig nicht gesehen. Das war eine stinkende Kloake aus Bergbau- und Chemie-Abwässern, die man versteckt hat. Heute gibt es dort eine saubere Seen- und Flusslandschaft. Trotzdem haben viele Ostdeutsche Kohls Versprechen von den blühenden Landschaften als Hohn empfunden.

Warum?

Viele Menschen haben die 90er-Jahre als Phase der Unsicherheit erlebt, als Entwertung des eigenen Lebens. Helmut Kohl hat ohne Zweifel seine Verdienste, weil er die Deutsche Einheit und die Europäische Integration vorangetrieben hat. Er hat aber im ganzen Land den Eindruck erweckt, als könne man das alles aus der Portokasse bezahlen. Das war natürlich nicht so.

Gründe für die Renaissance des Ostens

Wirtschaftlich scheinen die ostdeutschen Länder aber in der Tat zu erblühen. Dafür sprechen jedenfalls die Industrieansiedlungen der letzten Zeit.

Es besteht eine große Chance auf eine Renaissance der wirtschaftlichen und industriellen Stärke Ostdeutschlands. Das hat drei Gründe: Es gibt eine lange Tradition einer industriefreundlichen Bevölkerung. Es gibt noch große Flächen für Ansiedlungen. Und drittens haben wir ein enormes Potenzial und jetzt schon einen großen Anteil an erneuerbaren Energien. Wir produzieren sogar über den regionalen Bedarf. Das ist für viele große Unternehmen ein wichtiges Argument, weil sie so nachhaltiger produzieren und gleichzeitig auf dem Weg in die Klimaneutralität vorankommen können.

Nach dem Zweiten Weltkrieg sind viele Industriebetriebe aus den heutigen östlichen Bundesländern weggegangen und haben ihre Hauptsitze nach München, Frankfurt oder in andere westdeutsche Städte verlegt. Jetzt haben wir die Möglichkeit, die wirtschaftliche Landkarte Deutschlands neu zu zeichnen.

Vor allem die größeren Städte und ihre Speckgürtel glänzen mit Leuchtturmprojekten: Chip-Fabriken in Magdeburg und Dresden, Tesla in Grünheide, Start-ups in den Universitätsstädten. Aber können davon ganze Bundesländer profitieren – also auch der ländliche Raum?

Der Staat darf sich aus dem ländlichen Raum nicht zurückziehen. Die soziale Infrastruktur aus Kitas, Schulen, medizinischer Versorgung und Behörden muss erhalten bleiben und erreichbar sein. Die größeren Städte sind jetzt schon an den Kapazitätsgrenzen. Die Leerstandsquote in Jena zum Beispiel liegt bei unter einem Prozent – im Grunde gibt es keine freien Wohnungen. Deswegen muss der ländliche Raum gestärkt werden. Ich bin in einem Dorf bei Erfurt aufgewachsen und habe das Leben als Kind sehr genossen. Jugendliche, Eltern und Großeltern benötigen auf dem Land aber auch den Zugang zu sozialer Infrastruktur und eine anständige Verkehrsanbindung.

Sie haben in Ihrem Ostdeutschland-Bericht 2022 vor dem Fachkräftemangel gewarnt. Wie groß ist der Bedarf in den östlichen Bundesländern?

Bis 2030 werden in Ostdeutschland etwa 800.000 Menschen im erwerbstätigen Alter fehlen. Das ist etwa die Einwohnerzahl von Leipzig und Erfurt. Sei es in der Pflege, in der Kinderbetreuung, im Güterverkehr oder im Maschinenbau. Nach 1990 hatten wir einen Geburtenknick, deswegen fehlen jetzt viele Menschen im arbeitsfähigen Alter. Außerdem haben Millionen Menschen ihr Glück im Westen gesucht. Es wäre schön, wenn viele von ihnen zurückkommen würden. Wir werden aber nicht nur Zuzug von ehemaligen Thüringern oder Sachsen brauchen, sondern auch aus anderen Teilen der Welt. Dafür muss es eine Offenheit in der Bevölkerung geben. Die Fachkräfte müssen das Gefühl haben, willkommen zu sein und dazuzugehören.

Offenheit gegenüber ausländischen Fachkräften lässt sich von der Politik nicht einfach verordnen.

Das Ziel ist aber bei allen politischen Kräften – außerhalb der AfD – nicht umstritten, sondern wird gemeinsam verfolgt. Auch die CDU hat sich dazu bekannt. Es gab im vergangenen Jahr in Riems eine gemeinsame Erklärung aller Ministerpräsidenten Ostdeutschlands und dem Bundeskanzler mit der klaren Aussage: Wir brauchen Zuwanderung. In diesem Jahr haben wir dann in Schwerin die Fachkräftekonferenz Ost veranstaltet. Ich hoffe, dass wir die Herausforderung im Äußeren wie im Inneren meistern: mit einem modernen Einwanderungsrecht, aber auch mit einer offenen Haltung in der Bevölkerung. Es kommen ja nicht nur Arbeitskräfte, es kommen Menschen.

Carsten Schneider: "Vielleicht muss sich der Westen auch ein Stück auf uns zu bewegen"

Vor kurzem haben Äußerungen des Vorstandsvorsitzenden des Axel-Springer-Konzerns für Diskussionen gesorgt. Mathias Döpfner hatte in privaten Nachrichten geschrieben: Die Ossis sind entweder Kommunisten oder Faschisten. Wie sehr hat Sie so ein Vorurteil schockiert?

Schockiert hat mich vor allem seine Demokratieverachtung. Ihn hat offenbar wahnsinnig gemacht, dass in Deutschland freie Wahlen stattfinden, dabei jeder die gleiche Stimme hat und etwas anderes herauskommen kann, als er will. Das ist gefährlich, weil Herr Döpfner als Chef eines großen Medienkonzerns große Macht besitzt. Dem muss Einhalt geboten werden. Da sitzt jemand nicht an der richtigen Stelle. Die Unabhängigkeit der Presse ist grundgesetzlich geschützt. Der Spruch über die Ostdeutschen ist aber vor allem dumm und sagt in erster Linie viel über ihn selbst aus.

Oder müssen die Deutschen beim Ost-West-Gegensatz einfach etwas entspannter sein? Vorurteile gibt es ja auch gegenüber Menschen aus anderen Regionen: selbstverliebte Bayern, spießige Schwaben oder sture Norddeutsche zum Beispiel.

Wir sind ein sehr pluralistisches Land. Die Unterschiede machen uns auch interessant. Aber es gibt immer noch zu viele Vorurteile und Klischees über den Osten, die auch in den Medien verstärkt werden. Ostdeutschen wurde aus dem Westen lange vermittelt: Ihr sollt so werden wie wir. Wir sind aber so, wie wir eben sind, mit unserer Herkunft und unserer Geschichte. Vielleicht muss sich der Westen auch ein Stück auf uns zubewegen. Mir geht es um ein gesundes Selbstbewusstsein der Ostdeutschen, um einen ehrlichen Stolz auf ihre Leistungen und ihr Leben.

Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer hat vor kurzem vor Aufruhr in der Bevölkerung gewarnt. Grund seien die Pläne der Ampel-Koalition zum sogenannten Heizungstausch. Hat Herr Kretschmer mit seiner Warnung recht?

Natürlich ist das eine große Herausforderung. Deswegen werden wir Ausnahmen zulassen. Man kann seine alte Heizung behalten – es geht nur um die Installation von neuen Heizungen. Da gibt es dann hohe Zuschüsse, um das sozial abzufedern. Menschen, die in ihrem Haus oder ihrer Wohnung eine neue Heizung einbauen müssen, dürfen nicht überproportional belastet werden. Zur Wahrheit gehört aber auch: Erdgas wird in 20 Jahren viel teurer sein als jetzt. Auch deshalb brauchen wir neue Wärmequellen. Der Weg zur Klimaneutralität verlangt eine gewisse Veränderungsbereitschaft. Wir werden dieses Ziel aber nur erreichen, wenn alle den Weg mitgehen können.

Wurden den Menschen in den östlichen Bundesländern seit der Wende nicht schon genug Veränderungen zugemutet?

In den letzten 20 Jahren gab es mehrere fundamentale Krisen und jetzt den Krieg in Europa. Die Gesellschaft ist erschöpft. Für die Menschen in Ostdeutschland gilt das allemal. Irgendwann will man Sicherheit, das verstehe ich gut. Es hilft aber nicht, so zu tun, als könne man die Zeit aufhalten. Wir müssen die anstehenden Veränderungen fair gestalten. Ostdeutsche haben ein hohes Improvisationstalent. Sie können sich gut auf neue Situationen einstellen, weil sie in der DDR mit viel Improvisationsgeschick den Laden am Laufen hielten. Sie haben erlebt, wie sich nach 1990 fast alles verändert hat: von der Wirtschaft über das politische System bis hin zum Privaten. Uns wirft so schnell nichts mehr um. Darauf setze ich.

"Einige Menschen haben sich in den öffentlichen Debatten nicht mehr wiedergefunden"

Es gibt zwei widersprüchliche Entwicklungen. Wirtschaftlich entwickelt sich der Osten an vielen Stellen gut. Gleichzeitig wächst aber das politische Misstrauen. Im Deutschland-Monitor, einer von Ihnen in Auftrag gegebenen repräsentativen Umfrage, gaben im vergangenen Sommer nur 39 Prozent der Ostdeutschen an, dass sie mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden sind. Wie passt das zusammen?

Die Demokratie an sich halten 79 Prozent der Ostdeutschen trotzdem für die beste Staatsform. Sie sind aber mit der Ausübung derzeit nicht zufrieden. Das hat sicher mit dem enormen Druck zu tun, der im Zuge der Finanzkrise, der Flüchtlingssituation und dann der Corona-Pandemie entstanden ist. Einige Menschen haben sich in den öffentlichen Debatten nicht mehr wiedergefunden. Da hat eine gewisse Entfremdung stattgefunden, bis hinein in die Familien. Ich versuche deshalb, die Regierungspolitik bei vielen Terminen und Veranstaltungen in direkten Gesprächen und mit offenem Visier zu erläutern. Ich muss dabei häufig auch mit einigen Falschinformationen aufräumen. Das Vertrauen muss wieder aufgebaut werden. Das ist eine stetige Aufgabe.

Reicht es denn, die Regierungspolitik immer nur zu erklären? Vielleicht ist es auch Teil des Problems, dass viele Menschen ihren Unmut äußern, die Politik sich aber nicht ändert. Das war zuvor in der Flüchtlings- und Corona-Politik der Fall – und jetzt auch wieder bei der militärischen Unterstützung der Ukraine im russischen Angriffskrieg. Auch da haben viele Menschen Vorbehalte.

Wir reden hier ja von einer Minderheit, die die militärische Unterstützung der Ukraine komplett ablehnt. Im Übrigen werden Politikerinnen und Politiker für ihre Haltungen und Inhalte gewählt – und können auch wieder abgewählt werden. Am Ende entscheidet die parlamentarische Mehrheit – meist nach langen Debatten, in denen alle relevanten Positionen Gehör finden. Politische Führung bedeutet, diese getroffenen Entscheidungen dann auch durchzusetzen.

Es wird immer wieder diskutiert, ob ein Ostbeauftragter der Bundesregierung mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch nötig ist. Wann wird Ihr Amt verzichtbar sein?

Wenn es solche Äußerungen wie die von Herrn Döpfner nicht mehr gibt oder wenn sie zumindest auch im Westen nicht gleichgültig hingenommen werden. Und wenn wir in ganz Deutschland endlich gleichwertige Lebensverhältnisse haben. Eine Umfrage des MDR im vergangenen Jahr hat ergeben, dass eine Mehrheit der Ostdeutschen eine besondere Förderung des Ostens weiterhin notwendig findet. Wenn die Bevölkerung aber irgendwann mehrheitlich der Auffassung ist, dass wir dieses Amt nicht mehr brauchen, dann brauchen wir es nicht mehr. Ich arbeite daran, dass das möglichst bald der Fall sein wird.

Zur Person: Carsten Schneider wurde 1976 in Erfurt geboren. Nach dem Abitur machte er eine Lehre als Bankkaufmann. 1998 zog er erstmals für die SPD in den Deutschen Bundestag ein – damals war er mit 22 Jahren der bis dahin jüngste Abgeordnete jemals. Später war Schneider unter anderem Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion. Seit Antritt der Ampel-Koalition ist er Staatsminister und Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland im Bundeskanzleramt. Schneider ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.
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