Die Türkei schickt Tausende Flüchtlinge an die Grenze und erpresst damit Europa. Bei „Maybrit Illner“ macht ein Migrationsexperte auch das „katastrophale Versagen“ Brüssels mitverantwortlich für die zugespitzte Lage an der EU-Außengrenze. Und steht mit seiner Meinung nicht allein.
Weil der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan tausende Menschen an die EU-Grenze lotst, statt sie Europa weiter abzunehmen, debattiert Deutschland plötzlich wieder über Flüchtlinge. Dabei schien der EU-Türkei-Deal lange Zeit verdrängt. Der ZDF-Talk „Maybrit Illner“ versuchte am Donnerstagabend so engagiert die zahlreich bestehenden Fragen aufzuarbeiten, dass die Sendung gnadenlos überzogen wird.
Am Ende wird klar: Europa hat wertvolle Zeit vertan.
Das ist das Thema
Tränengas, weinende Kinder, verzweifelte Mütter - es sind fürchterliche Bilder, die von der griechisch-türkischen Grenze um die Welt gehen. Auf dem Rücken dieser Menschen wird der politische Konflikt ausgetragen, den Moderatorin
Das sind die Gäste
Eine dritte Option wird nicht im Sendungstitel erwähnt: Erpressung aus Notwehr.
- Denn diese These vertritt die freie Journalistin und Nahostexpertin Kristin Helberg. Sie erinnert daran, dass die Stimmung in der Türkei „an der Grenze“ sei - genau wie im Libanon und in Jordanien. Die Europäer müssten diesen Ländern Flüchtlinge in Kontingenten abnehmen: „Dann sind wir auch weniger erpressbar.“
- CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak beharrt hingegen auf der Seehofer-Formel: „Erst Ordnung, dann Humanität“. Zuerst komme die Sicherung der Außengrenze, dann ein Pakt mit der Türkei, dann können wir über die Lage in Griechenland sprechen, betont Ziemiak.
- „Das ist eine Illusion“, entgegnet Grünen-Chefin
Annalena Baerbock . Das rigorose Vorgehen der Grenzschützer schaffe erst Chaos. Sie schlägt Kontingentlösungen vor, um nicht nur die Lage an der EU-Außengrenze zu entschärfen, sondern auch auf den griechischen Inseln: „Das ist ein sehr geordnetes Mittel.“ - Wie schlimm die Situation etwa auf Lesbos ist, schildert Marie von Manteuffel von „Ärzte ohne Grenzen“. Es fehle an Trinkwasser, Essen, medizinischer Versorgung: „Die Menschen leben wie in Slums.“
- Vor allem Kinder müssten „heute, eher gestern“ von dort weggebracht werden, sagt auch Migrationsforscher Gerald Knaus. Der geistige Vater des Flüchtlingspakts mit der Türkei rügt die EU dafür, sich „zurückgelehnt“ zu haben - obwohl klar gewesen sei, dass die Türkei weitere Unterstützung für die Flüchtlinge im Land braucht.
- Klar sei auch gewesen, dass noch mehr Menschen aus Syrien fliehen, sagt Lamya Kaddor, Publizistin und Islamwissenschaftlerin. „Jetzt so überrascht zu tun und wie die EU ohnmächtig zu wirken oder unwillens - das finde ich überraschend.“
Das ist der Moment des Abends
Ein Sündenbock, den keiner so recht mag, und den deswegen auch niemand so recht verteidigen mag – es ist schon eine bequeme Position, die Paul Ziemiak stellvertretend für so viele EU-Politiker einnimmt: Erdoğan habe die Situation an der griechisch-türkischen Grenze verursacht, also liege die Schuld nur bei ihm, nur bei der Türkei.
Dieses Schwarz-Weiß-Denken implodiert allerdings bei einem simplen Perspektivwechsel. Auftritt Gerald Knaus, der das EU-Türkei-Abkommen erdacht hat und erst einmal daran erinnert, was Ankara seit Jahren leistet: Über 3,5 Millionen Syrer hat das Land aufgenommen, weit mehr als alle EU-Mitgliedsländer zusammen. Für Knaus gibt es einen triftigen Grund, warum der Deal mit Brüssel attraktiv war: „Die Türken hatten das Gefühl, sie waren nicht allein.“ Wenn die EU nun plötzlich nicht mehr zahlen wolle, obwohl eine neue Flüchtlingsbewegung aus Idlib bevorsteht, dürfe sie nicht „überrascht sein, dass die Türkei sagt: Es gibt keine Pflicht, Leute am Verlassen des Landes zu hindern, das ist jetzt euer Problem.“
„Und Herr Erdoğan hat vollkommen recht“, ergänzt Kristin Helberg: „Die EU reagiert erst, wenn 13.000 Menschen an der griechischen Grenze stehen. Die Million an der syrisch-türkischen Grenze hat niemanden interessiert.“
So hat sich Maybrit Illner geschlagen
Man stelle sich vor, Frank Plasberg hätte diese Runde moderiert – die Stammtisch-Phrasen zu Erdoğan wären schon nach der Hälfte der Sendung erschöpft gewesen. Illner widerstand der Versuchung, sich auf das einfache Feindbild zu stürzen. Sie hinterfragte lieber immer wieder die Rolle Deutschlands und der EU.
Ob das Prinzip der Menschlichkeit nun der Abschottung gewichen sei, fragte sie Ziemiak. Dabei hatte sie sich die Antwort in der Anmoderation schon selbst gegeben: „Die Zäune sind höher, das Mitleid weniger als 2015.“
Die menschliche Komponente holt Illner immer wieder zurück in die Sendung, erst durch Marie von Manteuffel, die von traumatisierten Kindern auf Lesbos erzählt. Kinder, die sich aufgegeben haben, die nicht mehr spielen, nicht mehr essen, sich das Leben nehmen wollen. Kleine Kinder von zehn Jahren. Und dann durch die unglaubliche, nicht einfache, irritierende, eben menschliche Geschichte von Lamya Kaddors Vater. Einem Syrer, der nach Deutschland geflüchtet war, als Rentner aber immer wieder nach Idlib reiste, dort erst von einer US-Bombe getroffen und später, als er trotz alledem zurückkehrte, von Räubern ermordet wurde. Um all dem Raum zu geben, ließ Illner auch Markus Lanz warten – 67 statt 60 Minuten waren angemessen für dieses komplexe Thema.
Das ist das Ergebnis
Wie hat die EU eigentlich die Verschnaufpause genutzt, die der Türkei-Deal ihr verschafft hat? Offensichtlich hat der Staatenbund ein Nickerchen gehalten. „Katastrophales Versagen“, bescheinigt Knaus Brüssel. Die Situation für die Menschen auf den griechischen Inseln hätte schon lange gelöst werden müssen.
Wie sich jetzt zeige, habe die EU auch die Lehren aus 2015 nicht gezogen, meint Helberg. Der viel beschworene „Kontrollverlust“ sei eingetreten, weil man die Syrer weder in Syrien schützen konnte, noch ihnen Perspektiven in Nachbarländern aufzeigen konnte, noch Kontingente aufnehmen wollte. Also machten sich Millionen auf den Weg über die Balkanroute.
Nicht der einzige Fehler, den die EU zum zweiten Mal machen könnte: Knaus warnte auch davor, dass in Idlib „ein riesiges Srebrenica“ passieren könnte. Für die hunderttausenden Menschen, die noch fliehen werden, brauche es eine Konferenz wie 1979 für die Boat People - und Deutschland müsse vorangehen.
Ja, die EU hat viel Zeit vertan. Und in dieser vergeudeten Zeit auch noch wahnsinnig viel falsch gemacht. Das hat „Maybrit Illner“ deutlich gemacht. Aber auch gezeigt: Es gäbe noch eine Menge Gutes zu tun.
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