• Lars Klingbeil ruft die Parteien der Ampel-Koalition zu mehr Teamgeist auf.
  • Die Regierung müsse Probleme lösen, statt sie zur Schau zu stellen, sagt der SPD-Vorsitzende.
  • Im Interview mit unserer Redaktion spricht Klingbeil außerdem über die Energiepreise, seine Sorgen vor einer Deindustrialisierung und die Frage: Kann die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnen?
Ein Interview

Herr Klingbeil, Grüne und FDP haben gerade sehr heftig über die Zukunft der Atomkraftwerke gestritten. Man kann derzeit den Eindruck haben, die Ampel-Koalition bestehe vor allem aus diesen beiden Parteien.

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Lars Klingbeil: Ich habe den Eindruck überhaupt nicht. Grüne und FDP haben sich in den letzten Tagen in der Atomfrage gestritten. Ich hätte mir gewünscht, dass man mehr das Gemeinsame sucht, an Lösungen arbeitet und nicht öffentlichen Streit austrägt. Vom Streit profitiert keine Partei. Deswegen ist es gut, dass der Bundeskanzler jetzt entschieden hat, wie es mit den Atomkraftwerken weitergeht. Ich rate allen Koalitionspartnern dringend, zur Gemeinsamkeit zurückzukehren. Wir haben riesige Verantwortung. Das Land steht vor einer der schwersten Krisen seit Jahrzehnten. Das wird man nur mit Teamgeist bewältigen. Nicht mit dem ständigen Vermessen, wer sich wie wo durchgesetzt hat.

Sie haben gerade das Wort Streit benutzt. Bisher hieß es von den Parteien der Koalition meistens: Wir streiten doch gar nicht, wir diskutieren nur viel.

Ich finde, dass politischer Streit in der Sache erst mal nichts Schlimmes ist. Es geht aber um das Wie und das Wie lange. Und ich sehe auch: Als wir mit den Koalitionsverhandlungen angefangen haben, gab es einen ganz starken gemeinsamen Geist zwischen uns Ampel-Parteien. Wir hatten das Vorhaben, Deutschland zu modernisieren, für die Zukunft gut aufzustellen und vieles nachzuholen, was in den letzten Jahren liegen bleiben musste.

Und jetzt, rund ein Jahr später?

Das Vorhaben haben wir immer noch. Dazu aber eine wahnsinnig herausfordernde Situation mit dem Krieg in der Ukraine, der Energiekrise, der Corona-Pandemie. Es gab noch nie eine Regierung, die mit so vielen unterschiedlichen Krisen gestartet ist, die so viel gleichzeitig zu entscheiden hatte. Ich verstehe, dass man in manchen Details hart ringt. Das gehört zu einer Demokratie dazu. Ich sehe aber auch: Der tagelange Streit um die Atomkraftfrage hat viele Menschen in diesem Land genervt. Sie erwarten von der Regierung, dass sie Probleme löst und nicht, dass sie Probleme öffentlich zur Schau stellt. Damit muss jetzt Schluss sein.

Hat die SPD beim Streit um die Atomkraftwerke zu sehr zugeschaut?

Unsere Linie in der Frage war immer klar: Wir wollen raus aus der Atomenergie. Wir sind stolz, dass wir diesen Ausstieg beschlossen haben. Aber in der jetzigen Situation muss man auch pragmatisch entscheiden. Rote Linien haben wir nie definiert. Das ist natürlich nicht so spektakulär wie die Laufzeitverlängerung oder den sofortigen Ausstieg zu fordern. In einer Krise ist der Weg der Vernunft vielleicht nicht der lauteste, aber der sinnvollste.

"Es geht darum, eine Deindustrialisierung in Deutschland zu verhindern"

Sie haben eben vom "gemeinsamen Geist" dieser Koalition gesprochen. Wie kann der zurückkehren?

Ich glaube nicht, dass wir ihn verloren haben. Wir arbeiten immer noch sehr konstruktiv miteinander. Schauen Sie auf die drei Entlastungspakete, die wir für die Bürgerinnen und Bürger umgesetzt haben. Es geht darum, eine Deindustrialisierung in Deutschland zu verhindern. Es geht auch darum, die Arbeitsplätze im Land zu sichern. Wir müssen bei der Digitalisierung und Modernisierung des Landes vorankommen. Auch die Einwanderung ist ein großes Thema: Wie schaffen wir es, Deutschland als Einwanderungsland aufzustellen und dafür zu sorgen, dass Fachkräfte aus anderen Ländern zu uns kommen? Das alles fordert den gemeinsamen Geist. Ich wünsche mir sehr, dass man nicht das Trennende in den Mittelpunkt stellt, sondern das Gemeinsame und den Aufbruch aus dem Koalitionsvertrag.

Wie real ist die Gefahr einer Deindustrialisierung aus Ihrer Sicht?

Es besteht die Gefahr, dass jetzt Entscheidungen gegen Investitionen am Standort Deutschland getroffen werden, weil wir so hohe Energiepreise haben. Deswegen ist es richtig, dass wir mit der Strompreisbremse und dem Gaspreisdeckel die Energiekosten nach unten drücken. Es gibt auch einen enormen Fachkräftemangel, der beseitigt werden muss. Wenn sich die Deindustrialisierung erst mal einschleicht, sieht man die Konsequenzen vielleicht nicht morgen oder übermorgen – aber in fünf, sechs, sieben Jahren. Das würde dazu führen, dass auch Wohlstand und Arbeitsplätze verloren gehen. Die Regierung wird daran gemessen, ob wir es schaffen, die Industrie überlebensfähig zu machen.

"Ich will, dass den Menschen schnell und pragmatisch geholfen wird"

Inzwischen liegen Vorschläge einer Expertenkommission zur Gaspreisbremse auf dem Tisch. Für Privathaushalte schlägt sie vor, dass der Staat im Dezember die Abschlagszahlung für alle Gaskundinnen und -kunden übernimmt – also auch für Besserverdienende. Ist das gerecht?

Ich bin der Kommission sehr dankbar für ihre wissenschaftliche Arbeit. Sie stand unter dem Druck, schnell Lösungen zu finden. Wenn sie ein Jahr Zeit gehabt hätte, hätte sie vielleicht ein noch gerechteres Modell gefunden. Aber wir haben diese Zeit nicht. Putins Krieg und der Gas-Lieferstopp Russlands haben die Situation hier immer weiter verschärft. Wir brauchen jetzt Entscheidungen.

Aber es bleibt das Prinzip Gießkanne: Der Staat gibt Geld für alle aus – obwohl Geringverdienende es nötiger hätten als Gutverdienende mit großen Häusern.

Die Dezemberzahlung soll nach Vorschlag der Kommission als geldwerter Vorteil in die Steuer einfließen. Gleichzeitig soll es hohe Freibeträge geben. Das würde dazu führen, dass Menschen mit hohen Einkommen diesen Zuschlag versteuern müssen. Das macht diese Zahlung gerecht. Ich warne allerdings auch vor dem Trugschluss "Großes Haus, großes Einkommen". Das ist nicht immer die Realität. Gerade im ländlichen Raum gibt es ältere Menschen, die vor Jahren mit ihrer Familie in einem großen Haus gelebt haben, dort jetzt aber alleine leben und kein Geld in die Dämmung stecken können. Die haben auch sehr hohe Energiekosten und diese hohen Kosten senken wir.

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Warum sagt die Koalition nicht: Der Staat übernimmt die Abschlagszahlung nur für diejenigen, die das beantragen? Dann könnten Menschen, die das Geld nicht benötigen, darauf verzichten.

Ich will, dass den Menschen schnell und pragmatisch geholfen wird. Wenn wir jetzt noch in ein Antragsverfahren einsteigen, müssten die Stadtwerke oder die Kommunalverwaltungen dafür eine Infrastruktur aufbauen. Das wäre wieder sehr bürokratisch. Die Politik nimmt jetzt sehr viel Geld in die Hand und sorgt dafür, dass die Menschen ihre Gasrechnungen bezahlen können. Das sichert auch den sozialen Zusammenhalt. Es ist gut, dass wir in diesem Land die finanziellen Möglichkeiten und den politischen Konsens dazu haben.

Der deutsche Staat hat bisher keine Möglichkeit, allen Bürgerinnen und Bürgern direkt etwas auszuzahlen – weil es diese direkte Verbindung nicht gibt. Der Staat hat nicht die Kontoverbindung aller Menschen. Die Ampel-Koalition hat sich doch vorgenommen, diesen Weg zu schaffen.

Das ist das Ziel. Wir haben uns im Koalitionsausschuss im März geeinigt, dass der Finanzminister bis Ende dieses Jahres die Voraussetzungen dafür auf den Weg bringt. Es ist die feste Absicht, dass das in dieser Legislaturperiode passiert.

"Ich bin der festen Überzeugung, dass dieser Krieg nicht auf dem Schlachtfeld, sondern irgendwann am Verhandlungstisch entschieden wird"

Wie sich die Energiepreise entwickeln, wird auch von der Entwicklung des Kriegs in der Ukraine abhängen. Glauben Sie, dass die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnen kann?

Wir sehen die militärischen Fortschritte der Ukraine. Sie haben sehr viel mit dem Mut der Ukrainerinnen und Ukrainer zu tun. Sie haben sehr viel mit richtigen militärstrategischen Entscheidungen zu tun. Sie haben aber auch mit der Unterstützung aus dem Westen durch Waffenlieferungen zu tun. Ich bin mir sehr sicher, dass die Erfolge der Ukraine weitergehen. Wir sehen ja auch die Schwächen der russischen Seite.

Wir sehen aber auch eine gewisse Eskalation, gerade in der vergangenen Woche mit russischen Raketen- und Drohnenangriffen auf Kiew und andere Städte.

Es geht immer darum, die Ukraine in ihrem Recht auf Selbstverteidigung zu unterstützen und in ihrer Verhandlungsposition zu stärken. Ich bin der festen Überzeugung, dass dieser Krieg nicht auf dem Schlachtfeld, sondern irgendwann am Verhandlungstisch entschieden wird. Die Bedingungen dafür legt die Ukraine fest. Es geht jetzt darum, dass wir mit unserer Unterstützung Putin deutlich machen, dass er diesen Krieg nicht gewinnen wird.

Zur Person: Lars Klingbeil wurde 1978 geboren und wuchs im niedersächsischen Munster auf. Sein Vater arbeitete dort als Berufssoldat, seine Mutter als Einzelhandelskauffrau. Er studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte in Hannover, ist seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestags und dort Mitglied im Verteidigungsausschuss. 2017 bis Dezember 2021 war er Generalsekretär der SPD, seitdem führt er die Partei als Vorsitzender zusammen mit Saskia Esken.
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