360 Frauen wurden im Jahr 2023 von ihrem Partner oder von Angehörigen ermordet. Nahezu täglich ein Femizid. Die Politik ist sich einig: Frauenhäuser brauchen mehr staatliche Unterstützung. Doch ein entsprechendes Gesetz droht auf den letzten Metern zu scheitern.
Ein langer heißer Sommertag neigt sich dem Ende zu. Viele Berliner haben ihren Feierabend am See, im Biergarten oder im Freibad verbracht. Vielleicht sitzen sie in spätsommerlicher Lethargie noch auf ihrem Balkon oder schwitzen in ihrer Dachgeschosswohnung. Für eine 36-jährige Frau in Berlin-Zehlendorf verläuft dieser Abend des 28. August 2024 anders. Sie stirbt nach drei Messerstichen, einer davon direkt ins Herz.
Der mutmaßliche Täter: ihr 50-jähriger Ex-Mann. Eifersucht und "übersteigertes Besitzdenken" sollen laut Generalstaatsanwaltschaft das Motiv gewesen sein. Sie hat mittlerweile Anklage wegen heimtückischen Mordes aus niedrigen Beweggründen eingereicht.
Die 36-Jährige ist eine von mindestens 28 Frauen, die im Jahr 2024 in der Hauptstadt getötet wurden. 2023 waren es deutschlandweit insgesamt 360 Frauen – umgebracht von Menschen, die ihnen eigentlich am nächsten standen. Fast täglich entscheidet ein Mann, seine (Ex-)Frau zu ermorden.
Geschlechtsspezifische Gewalt ist auf einem Höchststand
In Gewaltsituationen suchen viele Frauen Schutz in Frauenhäusern. Wenn sie denn einen Platz finden. Denn davon gibt es zu wenig, immer wieder müssen Frauen abgewiesen werden. Es mangelt nicht nur an Plätzen und Personal, sondern auch an Wohnraum. Oft dauert es, bis Frauen eine Anschlusswohnung finden. "Viele Frauen bleiben länger, als es bei der Planung erwartet wurde", sagt Heike Hartmann unserer Redaktion dazu. Sie ist beim Awo-Kreisverband Berlin-Mitte als Bereichsleiterin für zwei Frauenhäuser zuständig. Die Frauen, die dort anklopfen, hätten sich in den meisten Fällen nach einem langen Leidensweg dazu entschlossen, vor der Gewaltsituationen zu fliehen.
In den Frauenhäusern leben sie hinter hohen Zäunen und mit Einlasskontrolle. Und anonym: Ihre Handys bleiben aus, die Adressen sind geheim. Sie tauchen unter. Betroffene stammen aus allen sozialen Schichten, meint Hartmann. Denn häusliche Gewalt finde in der gesamten Gesellschaft statt. Im Frauenhaus landen aber mehrheitlich jene Frauen, die über wenig finanzielle Mittel verfügen oder kein Netzwerk haben, das sie auffangen kann.
Ein Blick in die Kriminalstatistik für das Jahr 2023 zeigt: 938 Mädchen und Frauen wurden Opfer eines versuchten Mordes – bei 360 von ihnen vollendete der Täter sein Werk, 52.330 Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt, sexuell genötigt, belästigt oder missbraucht. 180.715 Frauen wurden zudem Opfer von häuslicher Gewalt. "Das sind Zahlen, die einen nicht kaltlassen, die einen immer wieder erschrecken und bei denen man sich wünschen würde, dass man das hätte verhindern können", sagt Hartmann.
Deutschland erfüllt Anforderungen der Istanbul-Konvention nicht
Mindestens 13.000 solcher Schutzplätze fehlen bundesweit, mit dieser Zahl rechnet zumindest das Familienministerium. Heike Hartmann geht davon aus, dass dabei "sehr knapp gerechnet" wurde. Denn die Problematik der Anschlusswohnung gebe es nicht nur in Berlin. In vielen Städten ist bezahlbarer Wohnraum Mangelware. Weil der Schutz von Frauen in Deutschland so prekär ist, wurde die Bundesrepublik bereits 2022 vom Europarat gerügt. Denn: Deutschland hat sich mit der Unterzeichnung der Istanbul-Konvention 2018 dazu verpflichtet, Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit allen Mitteln zu bekämpfen.
Die Istanbul-Konvention
- Die sogenannte Istanbul-Konvention ist ein Übereinkommen des Europarats aus dem Jahr 2011, das die Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt bekämpfen soll. Dazu gehören Opferschutz, Prävention und Strafverfolgung, aber auch die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter vor dem Gesetz.
Aus Sicht des Europarats unternimmt Deutschland zu wenig, um diese Ziele zu erfüllen: Zu wenige Frauenhausplätze, die Schutzräume generell zu ungleich verteilt. Kritikpunkte, die auch Heike Hartmann von der Awo bestätigen kann: "Die Versorgungslage gleicht einem Flickenteppich. Es kann nicht sein, dass eine Frau schlechter gestellt ist, nur weil sie nicht in Berlin lebt, sondern beispielsweise in Hessen oder Nordrhein-Westfalen. Frauen haben einen Anspruch, aus dieser Gewaltsituation herauszukommen."
Flickenteppich bei der Finanzierung – Gewalthilfegesetz soll Abhilfe schaffen
Bislang gibt es kein Gesetz, das eine bundesweite Einheitlichkeit oder einen Rechtsanspruch feststellt und die Finanzierung regelt. All das wäre aus Sicht von Heike Hartmann von der AWO aber notwendig. Bislang stammen die Mittel in den meisten Bundesländern aus dem Haushalt des Landes oder der Kommune. Für die Frauenhäuser bedeutet das häufig kleinteilige Anträge, Bewilligung von Personal, befristete Verträge.
Laut der Frauenhausstatistik aus dem Jahr 2023 mussten in diesem Jahr 28 Prozent der Frauen ihren Aufenthalt teilweise oder sogar vollständig selbst bezahlen. Um die Situation für schutzbedürftige Frauen – und in den meisten Fällen auch ihrer Kinder – zu verbessern, hat die rot-grüne Minderheitsregierung einen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht. Das sogenannte Gewalthilfegesetz soll ab 2030 Abhilfe schaffen.
Auffällig bei der Debatte am 6. Dezember im Bundestag: Dass es mehr Schutz für Frauen braucht, darüber waren sich alle diskutierenden Parlamentarierinnen einig. Entsprechende Anträge lagen auch von Union und FDP sowie der Linken vor. Gesetzentwurf und Anträge wurden zur weiteren Beratung an den Familienausschuss weitergegeben. Doch während die frauenpolitische Sprecherin der Grünen, Ulle Schauws, dafür warb, das Gesetz möglichst noch vor den Neuwahlen auf die Straße zu bringen, stellten sich FDP und CDU/CSU quer.
Stellung von trans Frauen sorgt für Gesprächsbedarf
Bis zur Neuwahl des Bundestags am 23. Februar bleibe zu wenig Zeit, kritisierte die zuständige Politikerin der Liberalen, Nicole Bauer. Politikerinnen der Union verwiesen hingegen darauf, dass der Entwurf von Familienministerin Paus bereits 2023 hätte eingebracht werden müssen. Und es gibt einen weiteren Streitpunkt: Die Frage, wie der Umgang mit trans Frauen in solchen Einrichtungen ablaufen solle, muss aus Sicht von Dorothee Bär (CSU) nämlich ebenfalls genau geklärt werden.
Heike Hartmann von der AWO merkt mit Blick auf diesen Kritikpunkt an, dass trans Frauen bislang nicht in höherer Anzahl Schutz in Frauenhäusern suchen würden. "In der Praxis muss man tatsächlich sagen, dass sehr selten trans Menschen in den Frauenhäusern ankommen", stellt sie klar. Natürlich würden trans* Frauen aufgenommen – meist in einem Frauenhaus, in dem es eine Apartmentstruktur gibt. Denn dort haben die aufgenommenen Frauen ihren eigenen Bereich – und eigene Bäder. "Es findet aktuell eine Entwicklung statt", meint Hartmann. So gebe es mittlerweile etwa spezielle Schutzwohnungen für trans* Menschen. Das größere Problem sei die Frage, wo Betroffene überhaupt Schutz finden – und welches Angebot für sie annehmbar ist.
Mit Blick auf das Gewalthilfegesetz macht Hartmann deutlich: "All das würde erst ab 2030 gelten – und wir brauchen jetzt schon mehr Plätze, mehr Personal und eine abgesicherte Finanzierung." Es brauche nun schnell einheitlichere Strukturen. 360 tote Frauen in einem Jahr sprechen ihre eigene Sprache.
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Heike Hartmann, Bereichsleiterin Awo-Kreisverband Berlin-Mitte
- Debatte im Deutschen Bundestag am 6.12.2024 zum Gewalthilfegesetz
- Bundesweite Frauenhausstatistik 2023
- tagesspiegel.de: "Gewalt gegen Frauen: Spranger: 28 Frauen in Berlin wurden von Männern getötet"
- zeit.de: "Europarat rügt mangelnden Schutz von Frauen in Deutschland"
- berlin.de: "Mutmaßlicher Femizid - Anklage wegen Mordes erhoben"
- Bundesministerium des Innern und für Heimat: "Straftaten gegen Frauen und Mädchen steigen in allen Bereichen – Fast jeden Tag ein Femizid in Deutschland"
- unwomen.de: "Istanbul-Konvention"
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