Am 4. September 2015 machen sich Hunderte von Geflüchteten von Budapest zu Fuß auf zur Grenze nach Österreich. Die ZDF-Doku "Stunden der Entscheidung – Angela Merkel und die Flüchtlinge", die am Mittwochabend im ZDF lief, rekonstruiert die Ereignisse dieses historischen Tages.

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"Sie hatten mir eigentlich einen ruhigen Tag versprochen", sagt Angela Merkel, gespielt von Heike Reichenwallner, während der nächtlichen Heimfahrt vom Flughafen Tegel in ihre Berliner Wohnung zu ihrem engsten Mitarbeiter, dem stellvertretenden Chef des Kanzlerbüros Bernhard Kotsch (Stefan Mehren).

So zumindest erzählt es die Dokumentation "Stunden der Entscheidung – Angela Merkel und die Flüchtlinge" und auch wenn nicht klar ist, ob Merkel diesen Satz tatsächlich so gesagt hat – ruhig war der 4. September 2015 sicher nicht.

Es war der Tag, an dem sich Hunderte Flüchtlinge entschieden, die unerträglichen Zustände am Budapester Ostbahnhof zu verlassen und sich auf den Weg zur ungarisch-österreichischen Grenze und dann weiter nach Deutschland zu machen.

Und es war der Tag, an dem sich Deutschland offenbar teilte. In die Menschen, die die Not der Geflüchteten sahen und einfach mit anpackten und halfen. In die Menschen, die Deutschland bedroht sahen und Angst im Land schürten und in die Menschen, die dieser Angst erlagen.

Ein Tag – zwei Perspektiven

Die Dokumentation von Christian Twente, die am Mittwochabend im ZDF lief, will die Ereignisse dieses Tages rekonstruieren. Als erzählerische Leitlinien dienen ihr dabei zwei parallele Handlungsstränge. Da ist zum einen der Tag aus der Sicht von Mohammad Zatareih (Aram Arami).

Wie Hunderte anderer Flüchtlinge ist auch er am Budapester Ostbahnhof gestrandet, muss die unerträglichen Zustände ertragen. Aus Angst vor der Willkür der ungarischen Behörden organisiert Zatareih einen Marsch zur österreichischen Grenze, der später als "March of Hope" bekannt werden sollte. Hunderte Flüchtlinge schließen sich ihm an, wollen die knapp 200 Kilometer entfernte Grenze zu Fuß erreichen.

Parallel dazu erlebt der Zuschauer den gleichen Tag aus der Sicht Angela Merkels. Deren "versprochener ruhiger Tag" führt die Kanzlerin zu einer Reihe öffentlicher Termine in Bayern und Nordrhein-Westfalen, abends soll die Kanzlerin wieder in Berlin sein. Ein vergleichsweise unaufgeregtes Programm, doch die Geschehnisse in Ungarn zwingen Merkel zu Entscheidungen.

Triebkraft für diese Entscheidungen, so rekonstruiert es die Doku, sind zum einen natürlich die Geflüchteten selbst, die nach Deutschland wollen, die ungarische Regierung von Viktor Orbán, der die Geflüchteten humanitär im Stich lässt und als Spielball benutzt, schließlich seien sie "ein deutsches Problem" und die anderen europäischen Länder und deren (mangelnde) Bereitschaft, Menschen aufzunehmen.

In dieser politischen Gemengelage wächst der Druck auf die Kanzlerin. In einem Telefonat mit dem österreichischen Kanzler Werner Faymann und unter Rücksprache mit Sigmar Gabriel, Peter Altmaier und Frank-Walter Steinmeier, Horst Seehofer war nicht zu erreichen oder wollte nicht erreicht werden, entscheidet die Kanzlerin in der Nacht, die Hälfte der Geflüchteten aufzunehmen – als Ausnahme.

Die Frage nach der Alternative

Erzählt wird die Geschichte von Merkel und Zatareih dabei auf ganz unterschiedlichen Wegen. Als rekonstruierendes Schauspiel-Drama, durch Interviews mit Zeugen, Kritikern und Beteiligten wie Thomas de Maizière, Peter Tauber, dem Vorsitzender der "Europäischen Stabilitätsinitiative", Gerald Knaus, oder Sigmar Gabriel, durch die Einschätzung von Journalisten, die damals vor Ort waren und durch TV-Archivmaterial.

Die Entscheidung, den 4. September von vor vier Jahren aus zwei Perspektiven zu erzählen, hat dabei zwei entscheidende Vorteile. Zum einen wird die Situation der Geflüchteten greifbar. Die Not und der Entscheidungsdruck, aus denen heraus sie handeln, die ständige Angst vor der Willkür der ungarischen Regierung und die Hoffnung, dass Deutschland sie aufnehmen würde.

Zum anderen stellt die Merkel-Perspektive die Frage, die alle, die laut "Merkel muss weg!" schreien, gerne ausklammern: Was wäre die Alternative gewesen? Wie hätte man selbst entschieden? Hätte man Österreich mit dem Problem alleine gelassen? Hätte man riskiert, dass Orbán mit Gewalt gegen die Geflüchteten, darunter Alte, Frauen und Kinder, vorgeht? Hätte man eine humanitäre Katastrophe zugelassen?

Gleichzeitig lässt die Dokumentation auch Kritik zu, zum Beispiel in Gestalt des ehemaligen Chefs des Bundesnachrichtendienstes, Gerhard Schindler: "Ich finde, das gehört zu den Aufgaben der Politik, dass sie auch unschöne Bilder aushalten muss", kritisiert Schindler. Doch wenn man die Wörter "unschön" durch "grausam" und "Bilder" durch "Schicksale" ersetzt, bekommt diese Aussage eine ganz andere, vielleicht sogar realistischere Perspektive.

"Todeszahlen wie im Krieg"

Auf einer weiteren Ebene macht die Dokumentation die Hintergründe des 4. Septembers sichtbar. Dass dieser Tag nicht für sich alleine steht, sondern in eine Gesamtsituation eingebettet ist, wie auch Thomas de Maizière erklärt. So habe der ungarische Botschafter bereits Tage vorher Deutschland gebeten, Flüchtlinge aufzunehmen – was man damals abgelehnt habe: "Es waren vorher schon viele da und sehr viele unterwegs", so de Maizière.

Das sieht auch Gerald Knaus so. Die Gesamtsituation sei auch in den Jahren zuvor bereits katastrophal gewesen. 17.000 Tote habe es da bereits in den vergangenen fünf Jahren im zentralen Mittelmeer gegeben, "Todeszahlen wie im Krieg". Daher sei klar gewesen, dass man etwas tun müsse.

Etwas tun zu müssen, in genau dieser Lage befand sich Angela Merkel an diesem folgenreichen Septembertag. Beate Baumann (Tilla Kratochwil), engste Vertraute der Kanzlerin, sagt in der Doku, als die Entscheidung gefallen ist, die Hälfte der Flüchtlinge an der österreichischen Grenze aufzunehmen zu Merkel: "Sie allein werden für die Folgen dieser Entscheidung verantwortlich gemacht werden."

So sollte es in der öffentlichen Wahrnehmung dann auch tatsächlich kommen, doch die Doku zeigt ein gegenteiliges Bild, dass es eben nicht nur "Angela Merkel und die Flüchtlinge" gab. Es war nicht alleine Merkels Entscheidung, es war vielmehr eine Entscheidung der Umstände, der drängenden Zeit, des politischen Drucks, der Moral, der Notwendigkeit und der Menschlichkeit.

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