Die Aktivistin Carola Rackete will für die Linke ins Europaparlament einziehen. Ein Gespräch über Berufspolitik, ihr Bild von Europa und die Frage, ob wir ein anderes Wirtschaftssystem brauchen.

Ein Interview

Ein Café in Berlin-Mitte unweit des Rosenthaler Platzes. Carola Rackete hat diesen Ort vorgeschlagen. Das Interview mit unserer Redaktion soll nicht in der Parteizentrale der Linken stattfinden, die von hier fußläufig erreichbar wäre. Rackete tritt zwar für die Partei bei der Europawahl an – allerdings als unabhängige Kandidatin. Und das soll vorerst auch so bleiben, sagt sie.

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Mit der Nominierung der Klima- und Flüchtlingsaktivistin als eine von vier Spitzenkandidierenden ist der Linken ein echter Coup gelungen. "Linke zündet Rackete", titelte die "taz". Was aber hat Rackete im Europaparlament vor?

Frau Rackete, Sie sind als Klimaaktivistin und Seenotretterin bekannt geworden. Jetzt treten Sie als Parteilose für die Linke zur Europawahl an. Warum tun Sie sich das an?

Wir erleben in Deutschland und Europa einen gefährlichen Rechtsruck. Daher ist es wichtig, sich jetzt zu engagieren. Außerdem will ich für meine Themen im Europaparlament kämpfen. Ich bin von Beruf Ökologin und die Klimakatastrophe besorgt mich extrem. Hier muss endlich mehr passieren – ohne dabei soziale Gerechtigkeit zu vergessen.

Sie wollen auch in Brüssel Aktivistin bleiben. Geht beides – Politikerin und Aktivistin?

Ich finde, es sollte keine reinen Berufspolitiker geben. Ein Mandat ist nur auf Zeit und es wäre gut, eine Begrenzung einzuführen, damit Abgeordnete nicht den Bezug zur Realität verlieren. Ich sehe meine Rolle im Parlament vor allem darin, mich mit der Zivilgesellschaft zu vernetzen. Wir haben in Brüssel viel Lobbyismus. Konzerne werden gehört, nicht aber die Menschen und die Zivilgesellschaft. Deren Stimme will ich sein.

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Für Sie ist es wichtig, den "Kampf ums Klima" mit dem "Kampf um Gerechtigkeit" zu verbinden. Was bedeutet das?

Alle Umweltprobleme sind das Resultat von ungleicher Machtverteilung. Ein Beispiel: Energienetze dienen dem Gemeinwohl, sie gehören in kommunale Hand, daran sollten sich nicht Konzerne bereichern. Eine Rekommunalisierung ist rechtlich möglich. Sie kostet aber Geld. Gleichzeitig werden Multimillionäre in Deutschland weniger besteuert als in anderen europäischen Ländern, eine echte Erbschaftssteuer gibt es auch nicht. Das zeigt: Beide Themen gehören zusammen.

Die EU ist kein soziales Projekt

Carola Rackete, Kandidatin fürs Europaparlament

Ist die EU ungerecht?

Die EU ist kein soziales Projekt, sie wurde aus wirtschaftlichen Überlegungen gegründet. Für die Menschen in vielen Ländern, gerade in Osteuropa, hat sich der Lebensstandard mit Beitritt in die EU zwar verbessert. Man darf aber nicht vergessen: Die Einkommen innerhalb der Länder sind extrem ungleich verteilt. Das ist ein Gerechtigkeitsproblem. Aus einer globalen Perspektive ist die EU reich – auch wenn das Vermögen nicht bei allen ankommt. Dieser Reichtum ist untrennbar verbunden mit unserer kolonialen Geschichte und den heutigen ungerechten Handelsbeziehungen, die darauf fußen.

Es gibt Linke, die in der EU ein neoliberales Projekt für Eliten sehen.

Die Logik hinter der EU ist der gemeinsame Markt, da geht es um Wettbewerb. Auch Handelsabkommen dienen nicht dazu, anderen etwas Gutes zu tun. Und aus globaler Sicht ist die EU ganz sicher "Elite". Ich sehe aber ein anderes Problem, nämlich, dass die EU-Institutionen demokratischer werden müssen. Das EU-Parlament hat bei der Gesetzgebung kein Initiativrecht, im Rat können einzelne Länder die komplette Gesetzgebung blockieren – so wie es die FDP beim Lieferkettengesetz gemacht hat.

Ist die Wirtschaft für Sie Partner oder Gegner?

Als Menschen sind wir abhängig von funktionierenden Ökosystemen und einem stabilen Klima. Wir können Wirtschaft nicht unabhängig davon denken. Wirtschaft ist weder Partner noch Gegner, sondern wir wirtschaften, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Doch das wachstumsbasierte Wirtschaftssystem zerstört unsere Lebensgrundlagen. Zuletzt sind die Lebensmittelpreise um 30 Prozent angestiegen – mehr Dürren und Wasserknappheit können diese Entwicklung in Zukunft befeuern. Das zeigt: So, wie es ist, kann es nicht bleiben.

Muss der Kapitalismus also überwunden werden?

Klar ist, dass wir ein anderes Wirtschaftssystem brauchen. Die Erde setzt natürliche Grenzen. Es kann also kein unendliches Wachstum auf einem endlichen Planeten geben. Um dem gerecht zu werden, müsste die Ressourcennutzung allein in Deutschland bis 2050 um 60 bis 65 Prozent sinken. Zu diesem Ergebnis kommt das Umweltbundesamt. Mir geht es um gerechtes Wirtschaften in den planetaren Grenzen – dafür müssen diejenigen in ihre Schranken gewiesen werden, die heute zu viele Ressourcen vergeuden. Das sind die Reichen.

An den Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Civey kann jeder teilnehmen. In das Ergebnis fließen jedoch nur die Antworten registrierter und verifizierter Nutzer ein. Diese müssen persönliche Daten wie Alter, Wohnort und Geschlecht angeben. Civey nutzt diese Angaben, um eine Stimme gemäß dem Vorkommen der sozioökonomischen Faktoren in der Gesamtbevölkerung zu gewichten. Umfragen des Unternehmens sind deshalb repräsentativ. Mehr Informationen zur Methode finden Sie hier, mehr zum Datenschutz hier.

Carola Rackete: "Ich hätte Defensivwaffen an die Ukraine geliefert"

Ein anderes Thema, das die Menschen in Europa bewegt, ist der Krieg in der Ukraine. Die Linke ist gegen Waffenlieferungen.

Auch wenn das die Beschlusslage der Partei ist, werden innerhalb der Linken unterschiedliche Positionen diskutiert. Ich hätte mich dafür eingesetzt, zumindest Defensivwaffen an die Ukraine zu liefern. Ich habe 2014 selbst in Russland gelebt und einen Freiwilligendienst gemacht. Damals wurde die Krim völkerrechtswidrig annektiert. Aus einer antiimperialistischen Perspektive muss man eine klare Haltung gegenüber Russland haben – genauso übrigens wie gegenüber dem Nato-Mitglied Türkei, wenn sie in Rojava Kurden angreift. Bei Rojava schweigen die anderen Parteien.

Trotz bescheidener Umfragewerte für die Linke haben Sie gute Chancen ins Europaparlament einzuziehen. Hand aufs Herz: Ist es denkbar, dass in fünf Jahren aus der Aktivistin Carola Rackete eine Vollblutpolitikerin geworden ist?

Ich mache seit vielen Jahren Politik – nur eben nicht im Parlament. Ich glaube schon, dass man von einem System beeinflusst wird, sobald man drin ist. Daher ist es mir so wichtig, den Kontakt zur Zivilgesellschaft und zu sozialen Bewegungen auszubauen. Ich werde ja weiter viel auf Veranstaltungen sein, Menschen treffen, aber dann als parteilose Abgeordnete auch ihre Anliegen im EU-Parlament einbringen können.

Über die Gesprächspartnerin

  • Carola Rackete (36) wurde im schleswig-holsteinischen Preetz geboren. Als Seenotretterin (Sea-Watch 3) erlangte sie internationale Bekanntheit. Rackete studierte Nautik (Schifffahrtskunde) und Naturschutzmanagement. Im Jahr 2023 wurde sie von der Linkspartei als Kandidatin für das Europaparlament nominiert.
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