Die Änderung des rechtlichen Geschlechts wird deutlich einfacher: Der Bundestag hat dem Selbstbestimmungsgesetz zugestimmt. Zuvor hatte das Parlament erstaunlich sachlich über die Reform diskutiert. Bis Sahra Wagenknecht ans Mikro trat.

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Vor allem in der Grünen-Fraktion wird am Freitagnachmittag applaudiert, viele Abgeordnete umarmen ihre Kolleginnen Nyke Slawik und Tessa Ganserer: Der Bundestag hat das Selbstbestimmungsgesetz verabschiedet. Von den 636 Abgeordneten, die eine gültige Stimme abgegeben haben, haben 374 dafür gestimmt.

Zuvor hat der Bundestag teils emotional, teils nachdenklich, meistens sachlich über das Thema diskutiert. Schließlich geht es dabei um Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Ist das Gesetz ein Meilenstein für die Toleranz gegenüber transgeschlechtlichen Menschen? Oder gibt die Politik das rechtliche Geschlecht damit faktisch auf?

Selbstbestimmungsgesetz: Das ändert sich

Das Gesetz richtet sich an transgeschlechtliche Menschen. Sie identifizieren sich nicht mit dem ihnen zugewiesenen Geschlecht. Ein Beispiel: Eine Person wird aufgrund der Geschlechtsmerkmale bei der Geburt als Junge eingestuft und so großgezogen. Sie stellt aber mit den Jahren fest, dass sie sich als Frau fühlt – in diesem Fall spricht man von einer Transfrau.

Transgeschlechtliche und nichtbinäre Menschen können ihren Namen und Geschlechtseintrag schon jetzt auf dem Standesamt ändern lassen. Allerdings empfinden viele von ihnen das Verfahren als kompliziert und erniedrigend: Sie müssen zwei psychiatrische Gutachten vorlegen und dafür intimste Fragen beantworten.

Die Ampelkoalition ersetzt das alte Transsexuellengesetz deshalb durch das Selbstbestimmungsgesetz. Die wichtigsten Punkte:

  • Die Änderung von Name und Geschlechtseintrag ist auf dem Standesamt künftig deutlich leichter möglich: durch die Abgabe einer "Erklärung mit Eigenversicherung".
  • Die Person muss darin versichern, dass ihr die Tragweite der Entscheidung bewusst ist. Der neue Vorname muss zum gewählten neuen Geschlecht passen.
  • Die Änderung ist auch ohne eine geschlechtsangleichende Operation möglich.
  • Die Änderung muss drei Monate im Voraus angemeldet werden. Nach der Abgabe der Erklärung ist eine erneute Änderung frühestens nach einem Jahr möglich.
  • Für Minderjährige unter 14 Jahren müssen die Eltern die Änderungserklärung abgeben. Jugendliche zwischen 14 und 18 können das selbst machen – aber nur mit Erlaubnis der Sorgeberechtigten.
  • Der geänderte Geschlechtseintrag bedeutet keinen Rechtsanspruch auf Zugang zu geschützten Räumen. Ein Beispiel: Wenn er das wollte, könnte ein Saunabetreiber einer Transfrau den Zugang zu einer Frauensauna weiterhin verbieten. Allerdings gilt es gleichzeitig, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und das Diskriminierungsverbot von geschlechtlichen Minderheiten zu beachten.

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Nyke Slawik: "Ich hätte mir als Jugendliche so ein Gesetz gewünscht"

In der Debatte ergreift am Freitagmittag als erstes Nyke Slawik das Wort, neben Tessa Ganserer eine von zwei Transfrauen im Bundestag. Sie habe selbst das alte Transsexuellengesetz durchlaufen, um Namen und Geschlechtseintrag zu ändern, erzählt sie. Zwei Jahre, einen Gutachterprozess, 2.000 Euro habe sie der langwierige Prozess gekostet.

"Als Transpersonen erleben wir immer wieder, dass unsere Würde zur Verhandlungssache gemacht wird", sagt Slawik. Das neue Gesetz sei ein erster Schritt in eine selbstbestimmtere Gesellschaft. "Ich hätte mir als Jugendliche gewünscht, dass es ein solches Gesetz gibt."

Anke Hennig (SPD) spricht von einem historischen Tag: "Das Selbstbestimmungsgesetz nimmt niemandem etwas weg, ganz im Gegenteil: Es beseitigt Unrecht." Das Gesetz stärke die Stellung gerade auch von transgeschlechtlichen Jugendlichen. "Queeres Leben muss selbstverständlich sein."

Die Ampelkoalition hat sich zahlreiche Gesellschaftsreformen auf die Fahne geschrieben – ein Gebiet, auf dem die drei häufig streitenden Parteien doch noch einen gemeinsamen Nenner finden. Auch wenn die FDP beim Thema Selbstbestimmungsgesetz defensiver argumentiert.

Katrin Helling-Plahr (FDP) sagt: Sie zweifle nicht an ihrem Geschlecht und könne mit der Woke-Kultur wenig anfangen. "Und dennoch finde ich das Gesetz richtig. Weil Menschen unterschiedlich sind. Weil es Menschen gibt, die anders fühlen als ich. Wer bin ich, dass ich dem Lebensglück dieser Menschen entgegenstehe?" Vor allzu leichtfertigen Entscheidungen habe das Gesetz Vorkehrungen getroffen.

CDU warnt vor "gesellschaftlichem Sprengstoff"

Deutlicher Widerspruch kommt in der Debatte von den Unionsparteien, AfD und BSW. Mareike Lotte Wulf (CDU) erkennt an, dass das alte Transsexuellengesetz nicht mehr in die Zeit passe. Das neue Gesetz gehe aber zu weit. "Ihr Gesetz ermöglicht es, dass jeder Bürger sein Geschlecht wechseln kann, ohne hierfür seine Motivation darlegen zu müssen." Es gebe zu wenig Vorkehrungen gegen möglichen Missbrauch.

Besonders kritisch sieht die Union, dass auch Minderjährige den Geschlechtseintrag ändern lassen können, ohne sich vorher beraten zu lassen. Die Haltung der Ampel-Parteien sei "gesellschaftlicher Sprengstoff", sagt Wulf.

Der AfD-Abgeordnete Martin Reichardt bezeichnet das Gesetz als "ideologischen Unfug": "Ein Mann wird nicht zur Frau, wenn er sich eine Perücke aufsetzt und ein klischeehaft tiefausgeschnittenes Kleid anzieht." Das Gesetz führt aus seiner Sicht zu einer weiteren Zunahme von geschlechtsangleichenden Operationen unter Jugendlichen.

Wütende Rufe nach Rede von Sahra Wagenknecht

Die Linken-Gruppe unterstützt das Selbstbestimmungsgesetz: Sie sei froh, dass das Transsexuellengesetz auf dem "Müllhaufen der Geschichte" lande, sagt die Abgeordnete Kathrin Vogler.

Ganz anders Voglers frühere Parteifreundin Sahra Wagenknecht, die inzwischen ihre eigene Partei BSW gegründet hat. Sie bringt am Ende noch einmal Schärfe in die Debatte. Das Gesetz sei frauenfeindlich und mache Kinder und Jugendliche zu Versuchskaninchen, sagt Wagenknecht. "Einmal im Jahr das Geschlecht frei wählen zu können – auf diese Freiheit haben Millionen Bürger bestimmt sehnlichst gewartet", sagt sie ironisch.

Grinsend geht Wagenknecht danach zurück zu ihrem Platz, unter wütenden Rufen aus den Ampel-Fraktionen. Am Ende muss Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau dann doch noch die Glocke läuten und die Abgeordneten zur Ruhe rufen.

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