• Seit einem Jahr hat Deutschland einen Queer-Beauftragten. Sven Lehmann spricht im Interview über ein veraltetes Familienrecht und was ihm Sorgen macht.
  • Täglich gibt es in Deutschland Angriffe auf queere Menschen, etwa Beleidigungen, Mobbing oder auch körperliche Angriffe.
  • Der Aktionsplan "Queer leben" und das neue Selbstbestimmungsrecht soll mehr Akzeptanz und Gleichberechtigung schaffen.
Ein Interview

Herr Lehmann, Sie arbeiten seit gut einem Jahr als Queer-Beauftragter der Bundesregierung. Wozu braucht es dieses Amt?

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Das Amt wurde von der Ampel-Koalition eingeführt, um deutlich zu machen, wie wichtig ihr die Akzeptanz von Vielfalt ist. LSBTIQ*, also Lesben, Schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen, kurz: queeren Menschen, soll damit eine Stimme innerhalb der Bundesregierung gegeben werden. Ich habe den Auftrag, mit den Ministerinnen und Ministern die Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag umzusetzen, mit denen die Akzeptanz und die Gleichstellung von LSBTIQ* verbessert werden sollen. Für das Thema LSBTIQ* bin ich auch Ansprechperson für Verbände, Vereine, Initiativen, Schulen oder Religionsgemeinschaften bzw. die Kirchen. Denn mit der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ist es noch lange nicht getan. Queere Menschen brauchen mehr Gehör für ihre Gleichberechtigung.

Wie kamen Sie persönlich zum Amt des Queer-Beauftragten?

Ich bin selbst schwul. Seit über 20 Jahren mache ich Queer- und Menschenrechtspolitik auf kommunaler Ebene, bei mir zu Hause im Rheinland in Köln und auf Landesebene in Nordrhein-Westfalen. Nach meinem Einzug 2017 in den Bundestag habe ich als queerpolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion zusammen mit meiner Kollegin Ulle Schauws queerpolitische Anträge und Gesetzesentwürfe entwickelt und so an vielen Vorhaben gearbeitet, die es 2021 dann auch in den Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung geschafft haben. Zudem bin ich Parlamentarischer Staatssekretär im Familienministerium.

Was liegt gerade konkret auf Ihrem Schreibtisch?

Im letzten Jahr haben wir die Rechte für queere Geflüchtete gestärkt, LSBTIQ* wurden als besonders gefährdete Gruppe explizit im humanitären Aufnahmeprogramm für Afghanistan berücksichtigt. Und wir haben einen Gesetzentwurf gegen Hasskriminalität auf den Weg gebracht. Das waren fürs erste Jahr gute Punkte. Aber das größte und für mich arbeitsintensivste Vorhaben ist der Aktionsplan “Queer leben“ für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands hat sich eine Bundesregierung mit allen Ministerien zu einer aktiven Politik gegen Diskriminierung von LSBTIQ* verpflichtet.

Warum ist er Ihnen so wichtig?

Mit dem Aktionsplan wird Politik für die Akzeptanz von LSBTIQ* erstmalig zur Querschnittsaufgabe für alle Ministerien – etwa in Bildung, Gesundheit oder Sicherheit. Mit der Auftaktveranstaltung in diesem Monat beginnt nach und nach die Umsetzung der im Aktionsplan vereinbarten Maßnahmen zusammen mit den Bundesministerien, mit den Bundesländern und mit fast 80 Initiativen und Verbänden der queeren Community.

Die jüngsten Ergebnisse einer Studie der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) zur Gleichstellung von LSBTIQ* in Deutschland zeigen, dass es queeren Menschen schlechter als der Allgemeinbevölkerung geht. Insbesondere fehlt es an Rechtssicherheit. Wie beurteilen Sie die Ergebnisse?

Die Studie ist sehr, sehr wichtig. Es ist international die erste Länderstudie der OECD zum Thema LSBTIQ*. Überraschend finde ich die Resultate nicht. Positiv ist, dass es LSBTIQ* in unserem Land so gut geht wie noch nie. Es gibt eine zunehmende Sichtbarkeit in Medien, Politik und im Sport, es gibt eine zunehmende Gleichstellung und rechtliche Anerkennung wie etwa durch die Ehe für alle.

Und was macht Ihnen Sorgen?

Negativ ist, dass es noch immer schlimme Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen gibt. Täglich gibt es in Deutschland mindestens drei bis vier Angriffe auf queere Menschen, etwa Beleidigungen, Mobbing oder auch körperliche Angriffe. Leider ist auch die Gesundheit bei queeren Menschen schlechter als im Durchschnitt der Bevölkerung. Es gibt überdurchschnittliche Raten an Depression oder Angststörungen. Diskriminierung macht krank. Uns queeren Menschen wurde und wird oft gesagt, dass wir uns doch nicht so öffentlich zeigen sollten, was eigentlich heißt, dass wir uns verstecken sollen. Oder es wird vermittelt, dass wir weniger wert seien. Gesellschaftlich und rechtlich gibt es also noch einiges zu tun. Aber wir sind schon weit gekommen. Laut OECD sind in Deutschland drei Viertel des Weges bis zur völligen Gleichstellung geschafft.

Sicherlich gibt es einige Vorhaben, die Sie auf den Weg bringen wollen.

Ja, vor allem drei zentrale. Erstens das Selbstbestimmungsgesetz, damit transgeschlechtliche Menschen nicht mehr vom Staat diskriminiert werden. Durch eine Reform des Abstammungs- und Familienrechts sollen zweitens Regenbogenfamilien, also zum Beispiel Familien mit zwei Müttern, rechtlich anerkannt und gleichgestellt werden. Drittens muss der Diskriminierungsschutz queerer Menschen in die Verfassung aufgenommen werden. Das sind alles Vorhaben, die sich die Bundesregierung fest vorgenommen hat und an denen sie arbeitet.

Was soll sich mit dem Selbstbestimmungsgesetz ändern?

Zunächst möchte ich kurz erklären, was transgeschlechtliche Menschen sind. Das wissen viele Leute vielleicht nicht. Auch weil sie niemanden persönlich kennen, der transgeschlechtlich ist. Daher kann es für manche schwer sein, zu verstehen, was es bedeutet, transgeschlechtlich zu sein. Transgeschlechtliche Menschen sind Menschen, die sich mit einem anderen Geschlecht identifizieren als das, was ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Ein transgeschlechtlicher Mann galt nach seiner Geburt aufgrund körperlicher Geschlechtsmerkmale als Mädchen und wurde auch so aufgezogen. Im Laufe des Lebens stellt er aber fest, dass diese Einordnung nicht passt, dass er sich nicht als Frau, sondern als Mann identifiziert. Er möchte dann natürlich so anerkannt werden und so leben. Mit persönlichen Dokumenten, die etwa auf seinen alten weiblichen Namen ausgestellt wurden, bleibt der Alltag für ihn ein Spießrutenlauf. Sei es, wenn er ein Paket abholen will, mit der EC-Karte bezahlen, ein Buch in der Bibliothek ausleihen, eine Wohnung mieten, in den Urlaub fliegen oder sich für einen Job bewerben. Überall müsste er sich gegen seinen Willen outen, sich erklären und sich damit auch in Gefahr begeben.

Für diese Fälle gibt es bisher das Transsexuellengesetz.

Genau. Um ihren Geschlechtseintrag ändern zu dürfen, müssen sich transgeschlechtliche Menschen heute aber noch zwei psychiatrischen Gutachten unterziehen. Sie müssen oft intimste Fragen beantworten, etwa nach ihrer Unterwäsche, nach dem Masturbations- und Sexualverhalten. Dann entscheidet ein Gericht, ob sie den falschen Geschlechtseintrag korrigieren dürfen. Das verletzt eindeutig die Würde des Menschen. Transgeschlechtlichkeit ist keine Krankheit. Wir wollen mit dem Selbstbestimmungsgesetz diese Zwangs-Gutachten abschaffen und stattdessen eine Selbstauskunft beim Standesamt einführen. Über die geschlechtliche Identität eines Menschen kann keine Ärztin und kein Richter Auskunft geben, sondern nur jeder Mensch selbst.

Wann soll das neue Gesetz verabschiedet werden?

Ich hoffe dieses Jahr. Der Gesetzentwurf ist fertig und liegt aktuell im Justizministerium, da warten wir noch auf grünes Licht. Weltweit haben bereits zwölf Länder ein Selbstbestimmungsgesetz, vor kurzem haben es auch noch Finnland und Spanien eingeführt. Da gibt es gute Erfahrungswerte. Deutschland sollte den guten Beispielen jetzt folgen.

Manche Frauen fürchten, dass sie dann in Umkleideräumen oder öffentlichen Toiletten nicht mehr sicher sind, wenn ein Mann künftig einfacher seinen Geschlechtseintrag im Pass ändern lassen kann ...

Ich nehme wahr, dass dieses Vorhaben bei einigen erstmal zu Unsicherheit führt. Jedoch sind es aktuell ja transgeschlechtliche Menschen, die massiv diskriminiert werden. So gehen transgeschlechtliche Personen oft gar nicht in die Sauna, weil sie Angst haben, komisch angeguckt, angesprochen oder rausgeworfen zu werden. Bei öffentlichen Toiletten wird gar nicht kontrolliert, wer dort reingeht. Kann sich ein Mann zukünftig einklagen, damit er als transgeschlechtliche Frau in die Frauen-Sauna kann? Nein! Es gibt keinen Rechtsanspruch auf so etwas und wird es auch nicht geben. Einrichtungen, wie Saunen, entscheiden über das Hausrecht selbst, ob eine Person reinkommt. Das Gesetz wird nur ändern, dass die psychiatrischen Gutachten für transgeschlechtliche Menschen abgeschafft werden und sie ohne Bevormundung die richtigen persönlichen Dokumente mit dem richtigen Namen und ihrem richtigen Geschlecht bekommen.

Wie wollen Sie das Familienrecht modernisieren?

Die Ehe für alle gibt es ja seit über fünf Jahren. Kinder in Familien mit gleichgeschlechtlichen Eltern wurden damals leider nicht mitbedacht. Wenn ein Kind in eine Ehe mit Mann und Frau hineingeboren wird, hat es automatisch mit Geburt zwei sorgeberechtigte und unterhaltspflichtige Elternteile. Wenn ein Kind in die Ehe mit zwei Frauen geboren wird, hat es nach der Geburt nur einen Elternteil. Die nicht-leibliche Mutter muss das Kind als Stiefkind adoptieren, selbst wenn der biologische Vater etwa Samenspender bei einer Samenbank ist. Das ist ein langwieriger und oft demütigender Prozess. Und das Kind ist in dieser Zeit schlechter abgesichert und geschützt. Die Bundesregierung will, dass bei der Geburt ihres Kindes beide Frauen auch rechtlich Mütter sein können. Der Justizminister hat für die Reform im Abstammungsrecht einen Entwurf für dieses Jahr angekündigt.

In Ihrem Aktionsplan "Queer leben" steht, dass ein Diskriminierungsverbot gegenüber queeren Menschen im Grundgesetz verankern werden soll. Wie wollen Sie ein derartiges Verbot umsetzen?

Im Grundgesetz gibt es den Artikel 3, das Diskriminierungsverbot aufgrund von beispielsweise Geschlecht, Herkunft und Glaube. Was fehlt, ist ein Diskriminierungsverbot auf Grund der sexuellen Identität. Noch nach 1945 wurden in Deutschland schwule Männer und lesbische Frauen massiv verfolgt. Schwule Männer kamen ins Gefängnis, lesbischen Frauen wurde noch bis in die 1980ern das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen. Das konnte das Grundgesetz in seiner jetzigen Fassung nicht verhindern. So etwas darf nie wieder passieren. Und Errungenschaften wie die Ehe für alle müssen geschützt werden. Egal welche Regierung gerade an der Macht ist.

Schaut man sich um, gibt es in den USA oder in europäischen Ländern wie Ungarn, Rumänien oder Polen derzeit Rückschritte. Grundrechte für queere Menschen werden dort wieder einkassiert und eingeschränkt. Es bleibt also eine Dauer-Aufgabe, für die Anerkennung von Vielfalt und für Gleichberechtigung zu kämpfen. Und ich bin der festen Überzeugung, dass die Mehrheit in unserem Land dahintersteht, dass LSBTIQ* gleichberechtigt dazu gehören und angstfrei und offen leben können.

Über die Person: Sven Lehmann ist als Politiker für Bündnis 90/Die Grünen tätig. Von 2010 bis 2018 war er Landesvorsitzender der Grünen Nordrhein-Westfalen. Seit 2017 ist er Mitglied des Deutschen Bundestages, seit Dezember 2021 Parlamentarischer Staatssekretär beim Familienministerin und seit dem Januar 2022 Beauftragter der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt.

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