Das "Bündnis Sahra Wagenknecht" ist angetreten, die politische Landschaft Deutschlands ins Rutschen zu bringen. Am Samstag trafen sich die Mitglieder zum ersten bundesweiten Treffen in Berlin. Auf dem Parteitag herrschte euphorische Stimmung – Widerspruch gab es keinen.

Eine Analyse
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Vor dem "Kosmos" ist am Samstagmorgen eine lange Schlange. Die Anstehenden wollen in dem ehemaligen DDR-Premierenkino in Ost-Berlin aber keinen Film gucken. Sie sind hier, um am ersten bundesweiten Treffen einer neuen Partei teilzunehmen: dem "Bündnis Sahra Wagenknecht" (BSW).

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Die Stimmung vor dem modernistischen Bau ist trotz Kälte gut. Es wird sich angeregt unterhalten, viele kennen sich bereits. "Jetzt geht es endlich bergauf", sagt eine Delegierte aus München.

Das BSW will zeigen, dass es eine ernstzunehmende Partei ist

Neben ihr sind 392 weitere BSW-Mitglieder angereist, um ihrer noch jungen Partei einen Vorstand sowie ein Programm für die Europawahl im Juni zu geben. Die Hoffnungen sind groß. Alles will man anders machen. Anders als die Ampel-Koalition in Berlin, aber auch anders als die Opposition, sei es die AfD, die CDU oder die Linkspartei, von der sich Wagenknecht und viele ihrer Mitstreiter im Oktober losgesagt hatten.

Von Anfang an mussten sie sich jedoch den Vorwurf gefallen lassen, kein Programm, sondern mit Wagenknecht nur einen Polit-Star bieten zu können. An diesem Samstag will das BSW zeigen, dass es eine ernstzunehmende Partei ist und in der Lage, die politische Landschaft Deutschlands aufzumischen.

BSW-Treffen findet am internationalen Holocaust-Gedenktag statt

Zu Beginn geht es aber um etwas anderes: Der 27. Januar ist der internationale Holocaust-Gedenktag. Dass man den Parteitag auf diesen Tag gelegt habe, sei "nicht zufällig", sagt die Friedensaktivistin Daniela Dahn, selbst kein BSW-Mitglied. Man wolle ein "Zeichen des Antirassismus und Antifaschismus" senden, so Dahn in ihrer Rede.

Wahrscheinlich war es ein bisschen anders: In einer ursprünglichen Fassung des Programms war Dahns Auftritt nicht vorgesehen. Erst am Freitag wurde die Redeliste geändert. Womöglich dämmerte den Verantwortlichen erst spät, dass man dem Gedenken an den Holocaust an diesem Tag gebührend Raum geben muss. Von dem spontan geänderten Programm abgesehen: Der Parteitag ist professionell organisiert und wird reibungslos verlaufen.

Dahn erinnerte an die Opfer des Nationalsozialismus, nutzte die Gelegenheit aber auch für politische Statements. Das BSW nennt sie die einzige konsequente "Friedenspartei", und die EU müsse man "als transnationale Filiale der USA wahrlich vom Kopf auf die Füße stellen".

Damit gibt Dahn den Sound für den Parteitag vor: Viel Skepsis gegenüber der Europäischen Union, gegenüber der NATO und der Außenpolitik der Bundesregierung.

Wahlprogramm ist von Skepsis gegen die EU geprägt

Das schlägt sich auch im EU-Programm nieder, das an diesem Tag ohne Gegenstimmen verabschiedet wird. "Die EU in ihrer aktuellen Verfassung schadet der europäischen Idee", heißt es darin. Man kritisiert die "Technokraten" in Brüssel und ihre "Regelungswut". Das BSW wolle "ein selbstbewusstes Europa souveräner Demokratien". Oder kurz: Man will weniger Europäische Union.

Und weniger Migration. Im EU-Programm wird vor "islamistisch geprägten Parallelgesellschaften" gewarnt. Die europäische Asyl- und Migrationspolitik müsse "grundlegend" reformiert werden.

Fabio De Masi, neben dem Ex-SPDler Thomas Geisel der EU-Spitzenkandidat des BSW, sagt in seiner Rede den "Big Techs aus Übersee" den Kampf an. Der Einfluss von Meta, Amazon und Co. sei zu groß. Europa brauche seine eigene digitale Technologie und eine selbstständige Industriepolitik. Außerdem müsse man Reiche europaweit stärker besteuern, um die einfache arbeitende Bevölkerung zu entlasten. Gleichzeitig bekräftigt De Masi das Motto, das auch im EU-Programm steht: "Weniger ist mehr."

BSW-Mitglieder wünschen sich andere Außen- und Friedenspolitik

Die Unterstützungspolitik vieler europäischer Staaten für die Ukraine nennt De Masi "völlig verrückt". Im Programm steht, dass man "die Öl- und Gaslieferung aus Russland" wieder aufnehmen will. Die Sanktionen gegen das Land, das einen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, müssten aufgehoben werden. "Unser Ziel ist eine neue europäische Friedensordnung, die längerfristig auch Russland einschließen sollte."

Es ist das Thema, das an diesem Tag viele Anwesenden bewegt: In den Reden vieler Kandidaten für die zahlreichen Parteiposten wird deutlich, dass sie vor allem eine andere Außen- und Friedenpolitik bewegt hat, dem BSW beizutreten.

Andere Punkte, die immer wieder angesprochen werden: die Arroganz der herrschenden Politik, die Unzufriedenheit in der Bevölkerung, die wachsende Schere zwischen Reich und Arm, steigende Preise.

Sahra Wagenknechts Rede ist ein Rundumschlag gegen die etablierten Parteien

All das spricht auch Sahra Wagenknecht in ihrer Rede an. Unter Standing Ovations läuft die Namensgeberin und Co-Vorsitzende im feuerroten Kostüm auf die Bühne. Es wird ein Rundumschlag gegen die etablierten Parteien und ihre Politiker: Die lebten in einem "Paralleluniversum", sagt Wagenknecht unter tosendem Applaus. Deutschland habe "die dümmste Regierung Europas".

Die BSW-Gründerin spart nicht mit Polemik: Die FDP-Politikern Marie-Agnes Strack-Zimmermann, vehemente Advokatin für Waffenlieferung in die Ukraine, nennt sie "Strack-Rheinmetall" in Anlehnung an einen deutschen Waffenhersteller.

Vor allem wendet sich die Vorsitzende in ihrer Rede jedoch an ihre eigenen Leute. Wagenknecht weiß, welches Konflikt-Potenzial es in der neuen Partei gibt. Zusammengehalten werden die 450 BSW-Mitglieder bisher von nicht viel mehr als ihrer Ablehnung der etablierten Parteien und der Bewunderung für Wagenknecht. "Wir sind keine Linke 2.0", beschwört diese mit Blick auf den Dauerstreit in ihrer alten Partei, für den sie selbst wesentlich mitverantwortlich war. "Lasst uns pfleglich miteinander umgehen."

Wagenknecht bekam, was sie wollte: Auf dem ersten Parteitag herrschte eine bemerkenswerte Eintracht. Die Abstimmungen über Positionen, Tagespunkte und Satzungsänderungen verliefen ganz im Sinne der Parteigründer: Die Zustimmung lag fast immer bei über 90 Prozent.

Auch die Generaldebatte zum EU-Programm wurde nicht für inhaltliche Änderungsvorschläge oder Kritik genutzt, sondern ausschließlich für eine kämpferische Selbstvergewisserung. Dabei häufig betont: Man will sich nicht in die rechte Ecke stellen lassen. Viele hier ärgert der Vorwurf, das BSW sei rechts-offen.

Auf dem Parteitag ist man sich sicher: Hier wird Geschichte geschrieben

Unter den 400 Teilnehmenden herrschte Aufbruchsstimmung, bisweilen echte Euphorie. Im "Kosmos" war man sich an diesem Tag sicher: Hier wird Geschichte geschrieben. Und vor allem: Sahra Wagenknecht hat das Zeug, das Land zu verändern.

So weit reichten die Vorschuss-Lorbeeren für die Politikerin, dass ein Vertreter der kleinen NGO "Human Projects" ihr vor Ort den "Löwenherz"-Friedenspreis verlieh. Vielleicht etwas verfrüht, angesichts der Tatsache, dass sie mit ihrer Partei noch bei keiner einzigen Wahl angetreten ist.

Doch die Weichen für die kommenden Urnengänge in diesem Jahr wurden gelegt. Das BSW hat einen wichtigen Test bestanden. Das Bündnis hat gezeigt, dass es einen großen Parteitag ohne große Nebengeräusche organisieren kann. Und: Es ist gelungen, eine diverse Anhängerschaft hinter einem Programm zu vereinen.

Die Erwartung, dass sich bald auch politische Erfolge einstellen, ist groß. Nicht nur im BSW, sondern auch in der Bevölkerung. Das glaubt zumindest Sahra Wagenknecht. "Lasst uns diese Hoffnungen nicht enttäuschen", spricht sie ihren Mitstreitern ins Gewissen.

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