Eigentlich schien die bayerische Landtagswahl gelaufen: CSU und Freie Wähler würden ihre Koalition fortsetzen, daran bestand kein Zweifel. Nun aber gibt es wegen der Causa Aiwanger keine Gewissheiten mehr.

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Es ist ein Polit-Beben, das die Vorwürfe an Hubert Aiwanger wegen eines alten antisemitischen Flugblatts aus Schulzeiten in Bayern ausgelöst haben. Und das sechs Wochen vor der Landtagswahl. Doch auch wenn der Freie-Wähler-Chef den zentralsten Vorwurf zurückweist: Die Erschütterungen sind so heftig, dass auch das Regierungsbündnis von CSU und Freien Wählern urplötzlich ins Wanken geraten ist. Längst richten sich alle Augen nämlich auch auf Ministerpräsident Markus Söder (CSU) selbst: Steht er weiter zu Aiwanger? Ist er bereit, die Koalition weiter fortzusetzen?

Nochmals die Ausgangslage: Aiwanger (52) hat zurückgewiesen, zu Schulzeiten in den 1980er Jahren ein antisemitisches Flugblatt geschrieben zu haben, über das die "Süddeutsche Zeitung" berichtet hatte. Gleichzeitig räumte er aber ein, es seien "ein oder wenige Exemplare" in seiner Schultasche gefunden worden. Kurz darauf gestand Aiwangers älterer Bruder ein, das Pamphlet geschrieben zu haben.

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Wahl zwischen Pest und Cholera für Söder?

Am Dienstag gibt es eine Krisensitzung des Koalitionsausschusses - weil Söder die bisherigen Erklärungen Aiwangers nicht ausreichen. Anschließend wird der CSU-Vorsitzende dann sehr schnell Farbe bekennen müssen, wie sich die CSU und er persönlich nun verhalten.

"Söder ist in einem ausweglosen Dilemma: Er hat eigentlich nur die Wahl zwischen Pest und Cholera", sagt einer aus dem CSU-Vorstand. Wie der Dienstag abläuft und was dann passiert, das vermag keiner in der Koalition vorherzusagen. Mehrere Hauptszenarien werden für möglich gehalten - für die Zeit vor und nach der Wahl am 8. Oktober:

1. Söder wirft Aiwanger raus, umgehend. "Der Ministerpräsident beruft und entlässt mit Zustimmung des Landtags die Staatsminister und die Staatssekretäre", heißt es dazu in der Bayerischen Verfassung. Dazu müsste es eine Sondersitzung des Landtags geben. Damit wäre die Koalition kurz vor der Wahl am Ende, da die Freien Wähler einen solchen Schritt Söders nicht akzeptieren könnten.

Für die CSU hätte dies aber unabsehbare Folgen. Dann liefe sie nicht nur Gefahr, dass die Freien Wähler auf den letzten Metern Front gegen die CSU machen würden, Aiwanger zum Opfer stilisieren und vielleicht noch massiver profitieren könnten, als manche jetzt schon glauben. Sondern es würde sich auch umgehend eine neue Koalitionsfrage stellen. Ein Bündnis mit den Grünen hat Söder aber so oft und so klar ausgeschlossen, dass - da sind sich die meisten Christsozialen einig - jeder Gedanke an Schwarz-Grün die CSU zerreißen und Söder und der gesamten Partei massiv schaden würde. Aber auch an eine Koalition mit der SPD wird aktuell kein CSU-ler einen Gedanken verschwenden wollen.

2. Söder muss sich, vorerst jedenfalls, irgendwie mit Aiwanger arrangieren, jedenfalls bis zur Wahl. Dann nämlich, wenn er die Hürde für einen Rauswurf als zu hoch erachtet. Denkbar ist, dass er seinen Vize zu weiteren Entschuldigungen und öffentlichen Eingeständnissen nötigt und ihn vor der Öffentlichkeit quasi "auf Bewährung" setzt.

Doch auch das könnte unabsehbare Folgen haben. Die Opposition könnte ihm vorwerfen, allein aus wahltaktischen Gründen an Aiwanger festzuhalten. Eine Sondersitzung im Landtag, die Grüne, SPD und FDP gemeinsam beantrage könnten, würde kurz vor der Wahl zur Generalabrechnung - und die CSU müsste sich irgendwie durch die Debatte lavieren und erklären, warum sie weiter hinter Aiwanger steht. Auch dieses Szenario könnte die CSU am Ende Stimmen kosten.

3. Söder bekennt sich zwar zu den Freien Wählern - er erklärt aber, dass er keine Basis mehr für eine Zusammenarbeit mit Aiwanger persönlich sieht. Tatsächlich hört man, wenn man in beiden Parteien nach dem Verhältnis der beiden fragt, oft das Wort "zerrüttet", spätestens seit Aiwangers umstrittener Rede auf einer Kundgebung in Erding ("Demokratie zurückholen"). Und schlimmer als jetzt, nach den neuesten Entwicklungen, geht's eigentlich nimmer, sagt einer. Dass Aiwanger freiwillig das Feld räumt oder ihn die Freien Wähler gar drängen, glaubt niemand, jedenfalls nicht vor der Wahl. Und ein Ultimatum oder ähnliches würde man nicht akzeptieren, sagt einer.

Und damit geht es sofort nahtlos über zu mehreren Szenarien, die für die Zeit nach der Landtagswahl für möglich gehalten werden:

1. Die CSU und die Freien Wähler setzen ihre Koalition fort - mit Aiwanger. Weil er weiter will und die Freien Wähler weiter auf ihn setzen. Und weil die CSU keine andere Option hat oder ziehen will - wobei man noch nicht weiß, welche rechnerisch möglich sein könnte.

2. Die CSU und die Freien Wähler setzen ihre Koalition fort - aber ohne Aiwanger als Minister. Wenn Söder zum Beispiel dann erst sagt, dass er keine Basis mehr für eine Zusammenarbeit mit Aiwanger persönlich sieht. Denkbar wäre etwa eine Rochade: dass Aiwanger Fraktionschef im Landtag wird und der aktuelle Fraktionsvorsitzende Florian Streibl stattdessen Minister.

3. Es geht nicht mehr weiter für CSU und Freie Wähler. Dann müsste sich Söder einen neuen Koalitionspartner suchen. Nur wen? Die Grünen werden in der CSU - siehe oben - als maximal unwahrscheinlich erachtet. Mit der FDP ginge es wohl inhaltlich leicht. Aber auch wenn diese den Wiedereinzug in den Landtag schaffen sollte, wäre eine Mehrheit zusammen mit der CSU noch fraglich. Bliebe, da die AfD ausscheidet, nur die SPD. Und auch da graust es manchen in der CSU.

Scholz fordert umfassende Aufklärung

Klar ist: Nicht nur Aiwanger, sondern auch Söder steht nun unter Beobachtung. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) lässt am Montag über einen Sprecher ausrichten, es müsse "aus Sicht des Bundeskanzlers auch alles umfassend und sofort aufgeklärt werden und müsste dann gegebenenfalls auch politische Konsequenzen haben". (dpa/br)

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