Ändert Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren Kurs gegenüber dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan? Die auf dem EU-Gipfel in Brüssel beschlossene Kürzung der Beitrittshilfen lässt das vermuten. Ein Experte erklärt, warum sich Merkel den totalen Bruch mit Ankara nicht leisten kann - und eine Doppelstrategie fährt.

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Die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sind angespannt. Deutsche Staatsbürger sitzen in Haft, Regierungsmitglieder müssen sich als "Nazis" beschimpfen lassen, die Menschenrechtslage in der Türkei lässt zu wünschen übrig.

Im Wahlkampf stellte Bundeskanzlerin Angela Merkel erstmals das Ende der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei in Aussicht, nun setzte sie auf dem EU-Gipfel in Brüssel die Kürzung der Beitrittshilfen durch.

Zeichen eines beginnenden Kurswechsels in der Türkei-Politik? Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick.

Warum hat die EU die Kürzung der Beitrittshilfen für die Türkei beschlossen?

Die Kürzung der Finanzhilfen zur Vorbereitung eines EU-Beitritts der Türkei ist eine Reaktion auf die unbefriedigende Menschenrechtssituation, die Verletzungen der Pressefreiheit und die verschlechterte Rechtsstaatlichkeit in der Türkei.

Österreichs Bundeskanzler Christian Kern erklärte in Brüssel laut Nachrichtenagentur dpa, mit den Beitrittshilfen habe man die Türkei näher an die rechtsstaatlichen Standards Europas heranführen wollen. Dies sei "nicht gelungen".

Zugleich gilt die Entscheidung als eine Art Kompromiss unter den 28 EU-Staaten, weil es für den Abbruch der Beitrittsverhandlungen keine Mehrheit gibt. Merkel (CDU) hatte einen Abbruch der Verhandlungen erstmals im Bundestagswahlkampf im Rahmen des TV-Duells mit Martin Schulz (SPD) in Aussicht gestellt.

Wofür waren die Gelder gedacht und wie sehr trifft die Entscheidung die Türkei?

Die EU hatte der Türkei zwischen 2014 und 2020 rund 4,45 Milliarden Euro an Beitrittshilfen zugesagt, 368 Millionen davon sind schon vertraglich verplant.

Die Gelder sind zum Teil zweckgebunden und werden auch gezielt für die Stärkung der Zivilgesellschaft eingesetzt. Sie fließen nicht einfach so in den Staatshaushalt der Türkei oder in die Kassen der Regierungspartei AKP.

"Wenn die EU hier eine zu harte Linie fährt, würde man zugleich die Gegner Erdogans und den Rest der Rechtsstaatlichkeit schwächen", erklärt Andreas Kalina von der Akademie für Politische Bildung in Tutzing.

"Auch das ist eine Art Drahtseilakt." Merkel hob in Brüssel hervor, die EU-Kommission solle die Mittel "in verantwortbarer Weise kürzen".

Auf die Wirtschaft der Türkei haben die Kürzungen keinen spürbaren Effekt. Aber "sie tun Erdogan und der Türkei durchaus weh", betont Politologe Kalina.

Was bedeutet die Entscheidung für den Flüchtlingsdeal?

Die EU will am Flüchtlingsdeal unbedingt festhalten. Auch deswegen gibt es in der EU kaum Unterstützung für ein offizielles Ende der Beitrittsverhandlungen, denn dann wäre der Flüchtlingspakt gefährdet.

Mit Hilfe der 2016 geschlossenen Vereinbarung wurden die Flüchtlingszahlen über die östliche Mittelmeerroute und die Balkanroute deutlich reduziert.

"Merkel hat betont, dass die Türkei im Flüchtlingsdeal Hervorragendes leistet. In einer aktuell etwas ungewissen Weltlage und angesichts der Herausforderungen im Nahen Osten und in Nordafrika ist die Türkei immer noch ein Stabilitätsanker für die EU", erklärt Kalina.

Daher will Brüssel die dortigen finanziellen Verpflichtungen unbedingt einhalten. Zu den bereits überwiesenen drei Milliarden Euro zur Versorgung von Schutzsuchenden sollen weitere drei Milliarden nach Ankara gezahlt werden.

Ist das ein Kurswechsel Merkels in der Türkei-Politik?

Einen Kurswechsel kann Türkei-Experte Kalina nicht erkennen. Er spricht vielmehr von einer "schlüssigen Türkei-Politik". Auf der einen Seite hätten Merkel und die EU schon etwas härter auf die Verstöße gegen die Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit geantwortet.

"Auf der anderen Seite zeigt man der Türkei, dass sie nach wie vor ein wichtiger Partner ist und man sie nicht völlig isolieren will." Die Kürzung der Gelder sei ein Zeichen, das weh tue, die Beziehungen aber nicht völlig torpediere.

Sind die Beitrittsverhandlungen damit gescheitert?

Für einen Abbruch gibt es aktuell nicht mal im Ansatz eine Mehrheit innerhalb der EU. Zum einen, weil man die Reaktionen Erdogans, vor allem im Hinblick auf den Flüchtlingspakt, fürchtet.

Zum anderen, weil man die Tür gegenüber der "anderen Türkei" nicht zuschlagen will und auf die Zeit nach Erdogan hofft. Allerdings hat der türkische Präsident zuletzt selbst mehrfach erklärt, sein Land brauche keine EU-Mitgliedschaft mehr.

"Die Beitrittsverhandlungen waren nur eine Illusion", meint Andreas Kalina. "Man hat den Prozess immer weiter in die Zukunft geschoben. Hier sollte man etwas aufrichtiger mit der Türkei sein und sagen: Die Türkei hat keine Perspektive, ein vollwertiges Mitgliedsland der EU zu werden."

Wie ist es um die Zukunft der Zollunion bestellt?

Angela Merkel erteilte in Brüssel der Ausweitung der Zollunion zwischen EU und der Türkei eine Absage. Die Vereinbarung besteht seit 1996. Seitdem ist das Handelsvolumen zwischen der Union und Ankara von 28 auf 145 Milliarden Euro pro Jahr gestiegen.

Wichtigste Handelspartner der Türkei ist die EU, wichtigstes Einzelland Deutschland. Es war geplant, die Zollunion auf den Agrar- und Dienstleistungssektor auszuweiten, wovon die türkische Wirtschaft laut einer Studie des Ifo-Instituts massiv profitieren würde.

"Wenn die Zollunion nicht so schnell modernisiert wird, kann man Erdogan schon sehr weh tun", sagt Kalina. Um die Modernisierung zu beschließen, braucht es die Einstimmigkeit der EU. Die Zustimmung Deutschlands sei derzeit politisch ausgeschlossen, sagte ein deutscher Diplomat der Nachrichtenseite "Spiegel Online".

Fazit: Merkel und die EU verschärfen durch die Kürzung der Beitrittshilfen einerseits ihren Kurs gegenüber der Türkei.

Andererseits betonen sie die Bedeutung des Landes als strategischer Partner, vor allem bei der Verringerung der Flüchtlingsströme.

Die Milliarden im Rahmen des Flüchtlingspaktes sollen weiter fließen. Ein grundlegender Kurswechsel in der Türkeipolitik hat trotz der jüngsten Entscheidungen nicht stattgefunden.



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