- Deutschland und andere westliche Länder setzen derzeit viel daran, Staatsbürger und Ortskräfte aus Afghanistan auszufliegen.
- Die Bundesregierung hat zudem die Liste derer erweitert, die evakuiert werden können.
- Die chaotische Lage vor Ort bringt dabei einige Herausforderungen mit sich.
Seit die Taliban in Afghanistan die Macht übernommen haben, versuchen westliche Länder wie die USA und Deutschland ihre Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sowie Ortskräfte der Bundeswehr zu evakuieren.
Wer sind die Ortskräfte?
Als Ortskraft werden hauptsächlich Menschen bezeichnet, die den ausländischen Sicherheitskräften vor Ort geholfen haben - etwa als Übersetzer, Wächter, Köche oder ortskundige Fahrer. Häufig stellen Ortskräfte auch den Kontakt zur Bevölkerung her und liefern wichtige Informationen. Aber auch Firmen verfügen teilweise über Mitarbeitende vor Ort, die ebenfalls als Ortskraft bezeichnet werden.
Wer in einem Kriegsgebiet ausländische Sicherheitskräfte unterstützt, bringt sich meist in Lebensgefahr - zumal, wenn sich die Machtverhältnisse ändern. Deswegen gewährt die Bundesregierung afghanischen Ortskräften seit 2013 Schutz in Form von Einreise- und Aufenthaltsmöglichkeiten.
Mitte Juni fiel die sogenannte Zwei-Jahres-Frist: Zuvor waren nur jene gefährdeten Afghanen für eine Einreise qualifiziert, die innerhalb der vergangenen zwei Jahre für eine deutsche Einrichtung gearbeitet hatten. Nun dürfen alle Ortskräfte nach Deutschland kommen, die ab 2013 die Bundeswehr und andere deutsche Sicherheitsorgane unterstützt haben.
Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) werden Ortskräften und ihren Familienmitgliedern in der Regel noch in Afghanistan Visa für ihre Einreise nach Deutschland ausgestellt. Die Ausreise aus Afghanistan erfolgt dann eigenverantwortlich.
In der aktuellen Situation ist das jedoch nicht möglich. Der normale Linienverkehr aus Afghanistan ist eingestellt, weshalb Deutschland ebenso wie die USA, Großbritannien, Polen, Tschechien und andere westliche Länder versucht, so viele Ortskräfte und Staatsbürger wie möglich zu evakuieren.
Für wen gilt die Schutzregelung?
Diese Regelung gilt nach Angaben des BAMF für alle, die die Tätigkeit von Bundeswehr, Bundespolizei, Auswärtigem Amt und anderen deutschen Behörden oder Einrichtungen unterstützt haben, sowie für ihre Kernfamilie - also den Ehepartner oder die Ehepartnerin und minderjährige Kinder.
Zweitfrauen dürfen nicht mitreisen. Eine Aufnahme von eigenen minderjährigen und ledigen Kindern ist möglich, wenn die in Afghanistan verbleibende Mutter ihre Zustimmung zu einer dauerhaften Ausreise gibt.
Welche Bedeutung haben die Ortskräfte für die Bundeswehr?
Ohne orts- und sprachkundige Unterstützung geht bei einem Sicherheits- oder Hilfseinsatz wenig. Beim ISAF-Einsatz in Afghanistan waren sie laut Einschätzung von Winfried Nachtwei, Experte für Sicherheitspolitik, aber geradezu essenziell.
Afghanistan sei eine "fragmentierte, kriegszerrüttete Gesellschaft mit hohem Konflikt- und Gewaltpotential" gewesen, sagte Nachtwei bereits 2019 der "Deutschen Welle". Es habe dort so viele staatliche und nicht-staatliche Akteure wie in keinem anderen Bundeswehreinsatz zuvor gegeben - "Da bekamen lokale Sprachmittler und Ortskräfte für die Truppe eine ganz besondere Bedeutung."
Wie viele Ortskräfte gibt es?
Die Bundesregierung schätzt, dass es in Afghanistan insgesamt rund 2.500 Ortskräfte gab, die Deutschland geholfen haben. Nicht alle von ihnen wollen ausreisen.
Seit Einführung der Regelung im Jahr 2013 bis Mitte Juni haben nach Angaben des Bundesinnenministeriums 798 ehemalige Ortskräfte mit insgesamt 2.596 Angehörigen in Deutschland eine neue Heimat gefunden. Hinzu kommen Zusagen für 405 Ortskräfte mit 1.515 Familienangehörigen, die in einem beschleunigten Verfahren erteilt wurden.
Sind noch ausländische Soldaten in Afghanistan?
Ja. Die USA haben beispielsweise rund 3.500 Soldatinnen und Soldaten nach Afghanistan geschickt, um den Flughafen Kabul zu sichern und eine sichere Evakuierung zu gewährleisten.
Auch Deutschland schickt Verstärkung. Nach einem vom Kabinett beschlossenen Mandatsentwurf sollen bis zu 600 Soldatinnen und Soldaten bis spätestens Ende September im Einsatz sein.
Lesen Sie auch: Alle Entwicklungen zur Lage in Afghanistan in unserem Live-Blog
Was passiert mit den Ortskräften nach ihrer Evakuierung?
Ortskräfte werden nach BAMF-Angaben ab ihrer Einreise am Flughafen unterstützt. Aufgrund der drohenden Gefahr werden in Afghanistan aktuell keine Visa mehr ausgestellt, auch Sicherheitsüberprüfungen finden derzeit nicht statt. Diese werden in Deutschland am Flughafen nachgeholt, wie das wie das BAMF "ZDFheute" mitteilte.
Die Ankommenden werden nach einem Corona-Schnelltest von Bundespolizei und BAMF identifiziert, überprüft und registriert und in eine Erstaufnahmeeinrichtung gebracht.
Später werden die Ortskräfte nach einem bestimmten Schlüssel auf die Bundesländer verteilt. Wenn sie bereits Familie oder Freunde in Deutschland haben, wird das nach Möglichkeit berücksichtigt - allerdings in der Regel nur, wenn die familiären Bindungen vor der Ausreise bekannt gegeben wurden.
Eine Unterkunft wird den Ortskräften gestellt. Sobald eine Ortskraft in Deutschland Arbeit gefunden hat, kann sie selbst entscheiden, an welchem Ort im Land sie leben möchte. Ihr Aufenthaltstitel ist zunächst auf drei Jahre befristet.
Es gibt staatliche Angebote für eine Migrationsberatung, Integrations- und Berufssprachkurse. Vereine wie das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte unterstützen die Menschen bei Behördengängen oder im Alltag.
Wer wird aktuell neben Ortskräften noch evakuiert?
Allein die Bundeswehr hat nach Angaben des Verteidigungsministeriums inzwischen mehr als 900 Menschen aus Kabul ausgeflogen. Neben den Ortskräften werden auch afghanische Journalistinnen, Journalisten, Menschenrechtler sowie Mitarbeitende von Nicht-Regierungs-Organisationen, Kulturschaffende und deren Familien evakuiert.
"Wir haben jetzt nach den dramatischen Entwicklungen der letzten Tage diesen Personenkreis nochmal erweitert", sagte Außenminister Heiko Maas (SPD). "Die Ortskräfte der Nichtregierungsorganisationen, Kulturvereine, Journalisten, Menschenrechtler, Frauenrechtlerinnen – diese werden in Deutschland nach Ankunft ein Visum erhalten, eine Aufenthaltsgenehmigung und auch eine Perspektive in Deutschland. Denn das sind Menschen, denen wir etwas schuldig sind."
In der afghanischen Hauptstadt ist die Lage immer noch chaotisch. Wer glaubhaft versichern kann, dass sein oder ihr Leben in Gefahr ist, benötigt Maas zufolge nur ein Dokument, um sich auszuweisen, um mitgenommen zu werden.
Anfang der Woche war die Bundeswehr dafür kritisiert worden, dass mit dem ersten Evakuierungsflug nur sieben Passagiere ausgeflogen worden waren. Dass das Bundeswehr-Flugzeug fast leer zurückfliegen musste, war der Lage am Flughafen Kabul geschuldet.
"Aufgrund der chaotischen Umstände am Flughafen und regelmäßiger Schusswechsel am Zugangspunkt war gestern Nacht nicht gewährleistet, dass weitere deutsche Staatsangehörige und andere zu evakuierende Personen ohne Schutz der Bundeswehr überhaupt Zugang zum Flughafen erhalten würden", sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amts am Dienstag zur Begründung.
Verwendete Quellen:
- dpa
- Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF): Aufnahme afghanischer Ortskräfte
- Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF): Informationen zur Aufnahme von Personen in Deutschland, die als Ortskräfte in Afghanistan für
deutsche Behörden tätig waren - Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte e.V.
- DW.com: Ortskräfte: Vom Kameraden zum Bittsteller
- Zdf.de: Wie geht es mit den Afghanen hier weiter?
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.