• In Ostdeutschland sind weniger Menschen gegen das Corona-Virus geimpft.
  • Dennoch sind die Infektionszahlen im Osten geringer als im Westen und im Süden Deutschlands.
  • Wir erklären woran das liegt und ob das so bleiben wird.

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In der Vergangenheit musste der Osten der Republik beim Thema Corona des Öfteren für negative Schlagzeilen herhalten: Während der zweiten Welle lagen vor allem Sachsen und Thüringen bei den Infektions- und Todeszahlen ganz vorn dabei, und nun liegen sie ganz hinten bei den bisher verabreichten Schutz-Impfungen.

Momentan scheint es deshalb zunächst überraschend, dass die fünf neuen Bundesländer zum Teil deutlich geringere Infektionszahlen vorweisen können als die Länder im Westen und im Süden. So liegt die Sieben-Tage-Inzidenz in Thüringen beispielsweise bei rund 50, im benachbarten Hessen kletterte der Wert dagegen bereits über die 90er-Marke.

Doch bleibt das so? Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz, glaubt das nicht. Der CDU-Politiker warnte neulich schon vor "dramatischen Verhältnissen" durch steigende Inzidenzen im Osten und forderte "strengere Maßnahmen für Ungeimpfte".

Niedrige Inzidenz trotz geringer Impfquote

Apropos Geimpfte: In Sachsen sind prozentual gesehen die wenigsten Menschen in Deutschland geimpft (55,9 Prozent bei der Erstimpfung), in Bremen dagegen über 76 Prozent. Doch bei den Infektionszahlen zeigt sich das gegenteilige Bild auf: In Bremen liegt die Sieben-Tage-Inzidenz an Corona-Neuinfektionen bei 122,2 und damit auf Platz 1 in Deutschland und in Sachsen bei 35,8 - der zweitniedrigste Wert.

Aber warum sind die Infektionen im östlichen Sachsen so viel geringer als in der Hansestadt im Norden? Die Bremer Gesundheitssentatorin Claudia Bernhard erklärte kürzlich im Interview mit dieser Redaktion: “Wir haben eine hohe Mobilität, viele Pendler, internationale Häfen und einen Flughafen." Zum Thema Impfungen sagte die Politikerin: “Beim genauen Hinsehen fällt auf, dass die Neuinfektionen in Bremen zu einem sehr großen Teil die Gruppe der Ungeimpften treffen, auch die stationären Fälle in den Krankenhäusern spiegeln dieses Bild wider."

Eine Analyse der Neuinfektionen, betrachtet nach dem Impfstatus, verdeutlicht die Aussage der Senatorin. Demnach liegt die Sieben-Tage-Inzidenz in Bremen unter den Geimpften nur bei 23,1. Dagegen liegt sie unter Ungeimpften bei 344,1.

In städtischen Regionen gibt es generell höhere Kontaktraten als in ländlichen Gegenden, sagt der Mediziner Dr. Thomas Grünewald. Zudem könnte auch das geringere Durchschnittsalter in Bremen (43,6 Jahre) im Vergleich zu Sachsen (46,9) ein Grund sein, womit vor allem die höhere Mobilität der Menschen zu erklären sei, erklärt der Leiter der Klinik für Infektions- und Tropenmedizin am Chemnitzer Klinikum.

Pandemieverlauf zeitlich verschoben

Grünewald betont aber, dass man den Verlauf einer pandemischen Welle erst im Nachgang vollständig betrachten kann. “Sieht man sich den Verlauf der zweiten Welle an, kann man gut erkennen, dass Bremen auch hier den Gipfelpunkt der Fallzahlen sechs Wochen früher als Sachsen erreicht hat", erklärt der Mediziner.

In Sachsens Landesregierung stellt man sich jedenfalls schon mal auf steigende Zahlen ein. Als Grund für die bisher niedrigeren Infektionszahlen nennt das Sozialministerium in Dresden die Sommerferien, die in Sachsen später zu Ende waren. “Dadurch, dass in den anderen Bundesländern das neue Schuljahr bereits begonnen hat, kommt es aufgrund von zahlreichen Testungen auch zu vermehrter Identifikation von SARS-CoV-2-Positiven sowie natürlich auch zu zunehmenden Übertragungen", erklärt eine Sprecherin auf Anfrage.

Ähnlich sieht man die Situation in Sachsen-Anhalt, wo die Sieben-Tage-Inzidenz gerade bei 26,8 liegt, der niedrigste Wert in Deutschland. Eine Sprecherin erklärt: “Es kann unter anderem vermutet werden, dass im Vergleich zu anderen Bundesländern bei uns gerade erst die Ferien beendet wurden und noch nicht so viele Testergebnisse - insbesondere von Schulkindern - vorliegen. Zudem gibt es keinen Austausch mit direkten Nachbarländern, in denen die Inzidenzen hoch sind."

Mathematiker sieht Reiseziele als Grund

Nach Ansicht des Mathematikers Kristan Schneider hat das Reiseverhalten einen Einfluss auf die vergleichsweise niedrigeren Infektionszahlen im Osten gehabt. Während die Ostdeutschen in diesem Jahr tendenziell Urlaub an der Ostsee, in Thüringen oder im Harz gemacht hätten, seien Westdeutsche eher in fernere Regionen mit einem höheren Corona-Risiko geflogen. Dort wirke sich unachtsameres Verhalten besonders aus. “Im Urlaub glaubt jeder, jetzt haben wir auch Urlaub von Corona", sagt der Professor von der Hochschule Mittweida.

Der Medizinstatistiker Bertram Häussler verweist in diesem Zusammenhang auf den geringeren Anteil an Menschen mit ausländischen Wurzeln im Osten. Der Geschäftsführer des Berliner IGES-Instituts erklärte im Mitteldeutschen Rundfunk, dass in den Ferien viele Menschen mit Migrationshintergrund in ihre Heimat fliegen oder im Ausland Verwandte besuchen. Häussler geht auch deshalb nicht davon aus, dass das Ferienende in Sachsen-Anhalt, in Thüringen und Sachsen zu einer sehr starken Erhöhung der Inzidenz führe.

Geringe Impfzahlen werden zum Problem

Dass die Corona-Zahlen im Osten geringer bleiben als im Westen, das glaubt Mathematiker Schneider allerdings nicht. “Die Zahlen werden auch in den ostdeutschen Bundesländern ordentlich anziehen. Bei einer exponentiellen Vermehrung spielen eingeschleppte Fälle aus dem Ausland irgendwann keine Rolle mehr", sagt er.

Mit Blick auf Herbst und Winter zeigt sich der Mathematiker, der den Verlauf der bisherigen Corona-Wellen vorausberechnen konnte, aus mehreren Gründen besorgt. Die größten Probleme seien die geringen Impfzahlen und der Wegfall der Kontaktbeschränkungen. “Die Leute sind viel zu unachtsam, weil sie denken, dass Geimpfte das Virus nicht weitertragen können", sagt Schneider. Zwar sei die Infektionsrate bei Geimpften geringer, aber gleichzeitig sei die Delta-Variante deutlich ansteckender.

Nach Meinung von Kristan Schneider macht die Politik mit der Abkehr von der Sieben-Tage-Inzidenz als Entscheidungsbasis für Beschränkungen einen großen Fehler. Mit der Krankenhaus-Belegung als Kriterium laufe man Gefahr, die Kontrolle über die Pandemie zu verlieren. “Wenn jemand infiziert ist, dann dauert es zwei bis drei Wochen, bis die Symptome so schlimm werden, dass er eingewiesen wird. Zu diesem Zeitpunkt sind die Inzidenzen aber dann so hoch, dass die Kliniken wiederum drei Wochen später völlig überlastet wären."

Mehr Impfungen sind nötig

Und dass die Kliniken voll werden, davon sei bei der noch viel zu geringen Anzahl von Geimpften auszugehen. Damit bliebe als Ausweg nur ein weiterer Lockdown, so Schneider. “Man muss die Menschen vor sich selber schützen und die Gesellschaft vor den Folgeschäden. Denn wer sagt denn, dass die Folgeschäden nicht teurer sind als ein Lockdown?" Der Wissenschaftler plädiert auch für eine Impfpflicht. “Das ist auch deshalb wichtig, um diejenigen zu schützen, die sich nicht impfen lassen können aber würden. Gegenüber diesen Menschen haben wir eine Verantwortung."

Ähnlich argumentiert der Infektiologe Thomas Grünewald aus Chemnitz: “Wir sollten jetzt nicht mit dem Finger auf Bundesländer zeigen, die sich in einer anderen Phase der vierten pandemischen Welle befinden. Wir müssen uns um die Impfungen kümmern, damit wir nicht in eine ähnlich schwer zu händelnde Welle rauschen wie schon zweimal zuvor."

Seiner Einschätzung nach sind die Impfraten nirgendwo in Deutschland dazu geeignet, pandemische Wellen zu blocken. “Dazu bräuchten wir eine Durchimpfungsrate von mehr als 90 Prozent", so Grünewald.

Verwendete Quellen:

Streeck-Studie zum ersten Superspreading-Event - was an ihr dran ist

Der deutsche Virologe Hendrik Streeck hat seine lang und heftig diskutierte Studie zum ersten deutschen Superspreading-Event des Coronavirus veröffentlicht. Dabei untersuchten er und seine Kollegen des Instituts für Virologie der Universität Bonn die Karnevalssitzung vom 15. Februar 2020 im nordrhein-westfälischen Gangelt.
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