Geht es uns viel zu gut? Im Schnitt wirft unsere Gesellschaft jedes achte gekaufte Lebensmittel in den Müll. Pro Person und Jahr sind das rund 55 Kilogramm Essen, die im Abfall landen. Wie konnte es so weit kommen? Und warum gibt es kein Gesetz dagegen?
Die deutschen Zahlen sind beschämend: Insgesamt wandern hierzulande jährlich 275.000 Lkw-Ladungen Lebensmittel in den Mülleimer – genauer gesagt: rund elf Millionen Tonnen. Weltweit ist die Bilanz noch verheerender. Ein Drittel der produzierten Lebensmittel verdirbt vor dem Verzehr oder wandert ungenutzt in den Abfall. Laut einer Studie der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) von 2011 entspricht das der unfassbaren Menge von jährlich 1,3 Milliarden Tonnen.
In Entwicklungsländern verderben die meisten Lebensmittel schon während ihrer Herstellung, durch lange Transportwege, falsche Lagerung oder fehlende Kühlung. In den Industriestaaten ist der Überfluss das Problem. Verantwortlich dafür: Großverbraucher wie Kantinen und Gaststätten (die sogenannte "Außer-Haus-Verpflegung"), Handel, Industrie und Privathaushalte.
Bittere Wahrheit: Wir verschwenden viel zu viel
Den Löwen-Anteil mit 61 Prozent an dieser Lebensmittelverschwendung übernehmen laut einer Studie der Universität Stuttgart wir Endverbraucher. Sehr häufig findet sich originalverpackte, abgelaufene Ware in der eigenen Mülltonne - neben nicht mehr verwertbaren Überresten wie Suppenknochen, Bananenschalen oder Kaffeesatz, die unfairerweise auch in die Statistik einfließen.
Dennoch lautet die bittere Wahrheit: Wir kaufen zu viel ein, lagern unsere Lebensmittel falsch und verwerten die übrig gebliebenen Reste nicht weiter. Und das kostet: Würden wir unsere Lebensmittelabfälle vermeiden, könnten 30 Milliarden Euro eingespart werden - pro Jahr!
Supermärkte sortieren schon vorher aus
Supermärkte sind laut der Stuttgarter Studie dagegen nur für einen geringen Anteil an der Gesamtverschwendung verantwortlich. Fünf Prozent der weggeworfenen Lebensmittel entsorgen sie direkt - weil die Ware entweder beschädigt, verdorben oder abgelaufen ist, also das Mindesthaltbarkeitsdatum erreicht hat.
Organisationen wie Foodwatch oder WWF zweifeln allerdings an diesen Zahlen. "Die Angaben beruhen vor allem auf Schätzungen bzw. Eigenangaben der Unternehmen", kritisiert Tanja Dräger de Teran vom WWF gegenüber unserer Redaktion. Sie sieht noch ein weiteres Problem: "Bislang zu wenig erforscht und noch weniger Angaben gibt es zu den Verlusten in den vorgelagerten Ketten des Lebensmittelhandels."
Obst und Gemüse müssen bestimmte Normen und Standards erfüllen, um überhaupt in den Handel zu gelangen. Wenn Kartoffeln, Äpfel oder Karotten die Prüfung nicht bestehen, landen sie im Müll statt im Supermarkt-Regal. So tauchen sie in der Verlust-Statistik des Handels gar nicht erst auf.
Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung in Frankeich und Tschechien
Laut dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) wäre fast die Hälfte der Lebensmittelverschwendung vermeidbar. Das von
Anders sieht es bei unseren Nachbarn aus. In Frankreich wurde 2016 ein Anti-Wegwerfgesetz beschlossen. Supermärkte mit über 400 Quadratmetern Verkaufsfläche müssen Lebensmittel spenden, die sich ihrem Mindesthaltbarkeitsdatum nähern oder – wie etwa leicht beschädigtes Gemüse – wohl nicht mehr verkauft werden.
Mit offensichtlich positivem Effekt. Jacques Bailet, Chef von Banques Alimentaires, einer großen französischen Hilfsorganisation, verweist auf die Tatsache, dass durch das Gesetz nun mehr und qualitativ höherwertige Lebensmittel gespendet würden als vorher und die Menge des Abfalls reduziert wurde.
Auch in Tschechien müssen große Supermarkt-Ketten laut Gesetz unverkäufliche Lebensmittel kostenlos an Hilfsorganisationen abgeben. Das bestätigte das tschechische Verfassungsgericht zu Beginn des Jahres. Bei Zuwiderhandlung droht eine Geldstrafe bis umgerechnet 390.000 Euro.
Zu viel Essen im Müll? Unternehmen sehen kein Problem
Wäre eine Regelung wie in Tschechien oder Frankreich auch in Deutschland denkbar? Zu den größten Ketten in Tschechien gehören Kaufland, Lidl und Penny-Markt. Könnten die deutschen Handelsriesen nicht "freiwillig" mit gutem Beispiel vorangehen? Wir haben nachgefragt.
Die Rewe Group, zu der der Discounter Penny gehört, verkauft laut eigenen Angaben 99 Prozent ihrer Lebensmittel. "Das Gros des verbleibenden Prozents stellt Rewe bereits seit 1996 (Penny seit 2007) kostenlos den bundesweit rund 900 lokalen Tafel-Initiativen zur Verfügung", teilt das Unternehmen uns mit.
Auch bei Lidl, antwortet uns der Discounter, sei die Warenmenge, die entsorgt werden muss, weil Produkte das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten haben, sehr gering. Man gehe aktiv gegen Lebensmittelverschwendung vor, indem man seit vielen Jahren eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Tafeln pflege.
Und Kaufland beteuert, dass tatsächlich nur solche Waren entsorgt würden, die nicht mehr für den menschlichen Verzehr geeignet sind. "Obst- und Gemüseartikel, die wir aufgrund der von uns geforderten Tagesfrische am nächsten Tag nicht mehr anbieten möchten, bieten wir kurz vor Ladenschluss verbilligt an", schreibt uns die Supermarkt-Kette. Zudem würden Artikel bereits vor Erreichen des Haltbarkeitsdatums preisreduziert verkauft oder den Tafeln oder anderen karitativen Einrichtungen zur Verfügung gestellt.
BMEL: "Keine Notwendigkeit für eine gesetzliche Regelung"
Also alles im grünen Bereich? Dass die Unternehmen eine gesetzliche Regelung im Zweifel ablehnen, liegt auf der Hand. Doch auch das zuständige Ministerium gibt sich erstaunlich passiv. "Die Bundesregierung sieht derzeit keine Notwendigkeit für eine gesetzliche Regelung", antwortet das BMEL auf unsere Anfrage. Stattdessen wolle man "im Rahmen der Ausarbeitung der Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung sowohl freiwillige Initiativen als auch rechtliche Regelungen wie in Frankreich und anderen europäischen Ländern mit Interesse beobachten".
Wesentlich intensiver ist die Beschäftigung mit dem Endverbraucher. Auf der Homepage des BMEL finden sich zahlreiche Ratgeber und Vorschläge im Rahmen der Initiative "Zu gut für die Tonne". Eine App mit Rezepten zur Resteverwertung, Einkaufstipps und Hinweisen zur richtigen Lagerung soll "das Bewusstsein für die Wertschätzung unserer Lebensmittel erhöhen und so die Verschwendung reduzieren", heißt es dort.
Mit den Handelsunternehmen strebt das BMEL lediglich "den Abschluss konkreter Zielvereinbarungen an" und plant dazu eine Reihe von Dialogforen. Ob sich damit die Reduzierung der Lebensmittelverschwendung um die Hälfte erreichen lässt, ist zumindest fraglich.
Alle müssen mitmachen - Vorbild UK?
Nur den Handel in die Pflicht zu nehmen, greift auch aus WWF-Sicht zu kurz. Stattdessen sollten alle Akteure entlang der Wertschöpfungskette ihren Beitrag leisten, fordert Tanja Dräger de Teran.
Eine gesetzliche Vorschrift ist allerdings für den WWF nicht die Ultima Ratio. "Statt eines Gesetzes setzt der WWF auf freiwillige Vereinbarungen für die einzelnen Branchen. Diese sollten jedoch verbindliche Ziele enthalten, die zu einer bestimmten Zeit erreicht werden sollten und dies in einer nachprüfbaren und transparenten Weise", erklärt Dräger de Teran.
Klingt zunächst ziemlich theoretisch. Als Vorbild für ein solches Vorhaben könnte das Vereinigte Königreich dienen. Dort gibt es bereits seit 2005 freiwillige Vereinbarungen. Im sogenannten Cortauld Commitment engagieren sich Handel, Industrie, der Außer-Haus-Markt und Privathaushalte gemeinsam.
Verwendete Quellen:
- Studie zur "Ermittlung der weggeworfenen Lebensmittelmengen und Vorschläge zur Verminderung der Wegwerfrate bei Lebensmitteln in Deutschland" (2012) der Universität Stuttgart
- Studie "Systematische Erfassung von Lebensmittelabfällen der privaten Haushalte in Deutschland" (2017) der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK)
- Homepage des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft
- Stellungnahmen von BMEL, WWF, Rewe, Lidl und Kaufland
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.