- Sozialverbände und Verbraucherzentralen fordern die Aussetzung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel.
- Bundesagrarminister Cem Özdemir (Grüne) unterstützt die Forderung, Kritik kommt von dem Koalitionspartner FDP.
- Ökonom Michael Fritsch erklärt, was eine Aussetzung der Mehrwertsteuer bedeuten würde – und warum man vor ihrer Einführung über Froschschenkel und Wachteleier sprechen müsste.
Die Lebensmittelpreise in Deutschland steigen weiter: Laut Statistischem Bundesamt kosteten Nahrungsmittel im März 6,2 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Noch drastischer fiel der Anstieg bei Sonnenblumen- oder Rapsöl mit einem Plus von 30 Prozent aus. Für frisches Gemüse mussten deutsche Verbraucher zuletzt 15 Prozent mehr zahlen.
Entsprechend laut sind die Forderungen, Bürgerinnen und Bürger angesichts der deutlichen Preissteigerungen zu entlasten. Der Sozialverband VdK und die Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) haben die Bundesregierung aufgefordert, die Mehrwertsteuer bei Grundnahrungsmitteln auszusetzen.
Özdemir unterstützt Forderung
Derzeit liegt der reduzierte Mehrwertsteuersatz, der für Lebensmittel wie Fleisch, Fisch, Obst, Gemüse, Mehl und Backwaren gilt, bei sieben Prozent. Sozialverbände und Verbraucherzentralen fordern, ihn auf 0 Prozent abzusenken. Seit einer Änderung der EU-Mehrwertsteuersystemrichtlinie, die Anfang April in Kraft trat, wäre das möglich. Demnach muss der reguläre Steuersatz in den EU-Staaten bei mindestens 15 Prozent liegen, der ermäßigte bei mindestens fünf Prozent.
Steuerbefreiungen sind aber in bestimmten Bereichen erlaubt. Auch Bundesagrarminister
Kritik von der FDP
Zustimmung kam auch von dem Linken-Fraktionschef
Prüfung und Umsetzung einer Aussetzung der Mehrwertsteuer obliegen allerdings dem FDP-geführten Bundesfinanzministerium. Und dieses ist mit der Maßnahme nicht einverstanden. FDP-Fraktionschef Christian Dürr kritisierte, eine solche Steuersenkung sei keine Maßnahme, um gezielt Menschen mit geringen Einkommen zu entlasten. "Auch der reduzierte Mehrwertsteuersatz während der Pandemie hat sich in den Geldbeuteln kaum bemerkbar gemacht", so Dürr in der "Neuen Osnabrücker Zeitung"
Ökonomen sind skeptisch
Auch Ökonom Michael Fritsch ist im Gespräch mit unserer Redaktion skeptisch. "Die Maßnahme ist nicht sinnvoll. Und das gleich aus mehreren Gründen", sagt der Experte. Eine abgesenkte Mehrwertsteuer würde zu einer Verzerrung der Preisstruktur mit negativen Folgen führen und langfristig weniger Wohlstand bedeuten, meint Fritsch. "Wachstumseinbußen wären vorprogrammiert", ist er sich sicher.
Eine solche Maßnahme stelle einen tiefen Eingriff in die Preisstruktur und den Wettbewerb dar. "Eine wichtige Voraussetzung für eine effiziente Steuerung der Wirtschaft besteht darin, dass die Preise der Güter die Knappheitsverhältnisse widerspiegeln", erklärt Fritsch. Wenn die Politik die Preise allerdings willkürlich verändere, werde diese Steuerungsfunktion eingeschränkt.
Abgrenzungsdebatte notwendig
Er sieht weitere Gegenargumente: "Für die Maßnahme müsste man eine Abgrenzungsdebatte führen. Aktuell zählen zu den Grundnahrungsmitteln nämlich auch Froschschenkel, frische Trüffel und Wachteleier", erinnert er.
Es sei gleichzeitig nicht nachvollziehbar, warum auf Kuhmilch der reduzierte Mehrwertsteuersatz erhoben werde, auf Sojamilch aber der volle Satz von 19 Prozent. "Während man für Kartoffeln sieben Prozent zahlt, sind es bei Süßkartoffeln 19 Prozent. Für Äpfel gelten sieben Prozent, für Apfelsaft wieder 19 Prozent. Das ist skurril", sagt Fritsch.
Verbraucher gezielter fördern
Der Haupteinwand sei aber, dass die Maßnahme dem Gießkannen-Prinzip folge. "Sie wird dem sozialen Gedanken, die Armen zu entlasten, nicht gerecht", betont Fritsch. Von einer Mehrwertsteuersenkung würden nämlich alle profitieren – auch diejenigen, die die Preisanstiege problemlos schultern können.
Gleichzeitig sei aber nicht gesichert, wie viel von der Aussetzung der Steuer auch bei den Verbrauchern ankommen würde. "Das hängt vom Wettbewerb ab", so der Experte. Aus seiner Sicht sollte man es deshalb vermeiden, bestimmte Güter gesondert zu subventionieren. "Anstelle einer Objektförderung – also der Preisreduzierung von Gütern – bräuchte es eine Subjektförderung, also eine Subvention der Bedürftigen", erklärt der Ökonom.
Staat würden Milliarden entgehen
Diejenigen, die unter der Inflation besonders litten, seien die Transferempfänger, also etwa Hartz-IV-Empfänger, Studenten oder Rentner. "Viel zielschärfer wären deshalb zeitlich begrenzte und vielleicht gestaffelte Zuschläge zu Leistungen wie Hartz IV und Bafög", sagt Fritsch.
Tatsächlich würden dem Staat durch eine Aussetzung der reduzierten Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel Einnahmen verloren gehen. Schätzungen zufolge etwa zwei Milliarden Euro. Geld, das man auch anders investieren könnte.
Gegenvorschläge in der Debatte
Ulrich Schneider, Geschäftsführer beim "Paritätischen Wohlfahrtsverband" nannte das bei "Twitter" den "teuersten Tropfen auf einen heißen Stein, der je getröpfelt ist" und ergänzte: "Könnten die Armen richtig was mit anfangen". Der Soziallobbyist rechnete vor: "155 Euro geben Haushalte mit Einkommen bis 900 Euro mtl. Für alle Nahrungsmittel aus, davon 31 Euro für Obst und Gemüse. Entlastung bei Wegfall der MWSt für nur diese Produkte = 2,17 Euro! Gag, oder?".
Gegenvorschläge zur Mehrwertsteuersenkung liegen allerdings schon auf dem Tisch: Eine Lebensmittelpauschale für Transferempfänger wird ebenso diskutiert wie die Freigabe landwirtschaftlicher Nutzflächen, um die Produktion im Agrarsektor zu steigern.
Verwendete Quellen:
- Statistisches Bundesamt: Verbraucherpreisindex. Stand 25.04.2022.
- Tagesspiegel.de: FDP gegen Mehrwertsteuer-Entlastung bei Lebensmitteln. 23.04.2022.
- NOZ.de: Streit um Senkung der Mehrwertsteuer: FDP sagt Nein. 22.04.2022.
- Twitter: Profil von Ulrich Schneider
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