- Die Netflix-Serie "Bridgerton" hat das Thema Vielfalt in Filmen und Serien auch bei uns wieder stärker in den Fokus gerückt.
- Doch wie steht es um die Vielfalt im deutschen Filmgeschäft?
- Im Interview spricht Jerry Kwarteng von seinen Erfahrungen als schwarzer Schauspieler in Deutschland, von strukturellen Problemen in der Branche und darüber, was die ARD-Telenovela "Rote Rosen" besser macht.
London im frühen 19. Jahrhundert - und die Königin ist schwarz: Die Netflix-Serie "Bridgerton" hat mit ihrer Besetzungspolitik für Aufsehen gesorgt. Ungeachtet des historischen Kontexts, in den das fiktive Liebesdrama eingebettet ist, wurde beim Cast Wert auf ethnische Vielfalt gelegt.
Dem Erfolg der Serie tut dies keinen Abbruch, schon in der ersten Woche brach "Bridgerton" einen Netflix-Rekord. In den ersten 28 Tagen streamten weltweit 82 Millionen Haushalte die Serie von "Grey's Anatomy"-Produzentin Shonda Rimes. Vielfalt im Film kann offenbar auch ein wirtschaftlicher Faktor sein - und nicht zuletzt deshalb wird das Thema auch in Deutschland wieder stärker diskutiert.
Dabei fällt häufig der Begriff Color-blind Casting. Darunter versteht man die Praxis, Rollen unabhängig von Hautfarbe, ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht oder Aussehen zu vergeben. Strenggenommen handelt es sich im Fall von "Bridgerton" zwar nicht um ein solches "farbenblindes Casting", denn bei der Besetzung wurde bewusst mit dem gängigen Bild des weißen britischen Hochadels gebrochen - doch das Ansinnen ist letztlich das gleiche: Stereotype in Film und Fernsehen durch mehr Diversität zu verdrängen. Denn nicht-weiße Schauspieler sind in Film und Fernsehen noch immer eher die Ausnahme, gerade auch in Deutschland.
Aber woran liegt das? "Es ist ein strukturelles Problem", glaubt Schauspieler Jerry Kwarteng. Der Hamburger ist seit gut zehn Jahren als Darsteller in Film- und Serien-Produktionen zu sehen - dabei hatte er die Schauspielerei bereits im Alter von 17 ad acta gelegt, weil ihm als Schwarzen hauptsächlich stereotype Rollen angeboten wurden.
Ob sich seitdem etwas verändert hat, wo Color-blind Casting an Grenzen stößt und warum die ARD-Telenovela "Rote Rosen" aus seiner Sicht im deutschen Fernsehen eine Ausnahme bildet, erzählt er im Interview.
Ich habe zur Primetime mal durch die Hauptkanäle gezappt. Dabei ist mir
Jerry Kwarteng: Auf jeden Fall, das ist sehr typisch. Das hat damit zu tun, dass die Geschichten aus einer weißen Perspektive erzählt werden. Im deutschen Film sind die Hauptrollen meistens deutsch und damit automatisch weiß und auch überwiegend männlich. Aus weiblicher Perspektive werden noch Familienfilme oder Rom-Coms erzählt. Aber dass eine deutsche Geschichte im normalen Fernsehprogramm aus einer afro-deutschen oder asiatisch-deutschen Sicht erzählt wird, ist eine absolute Seltenheit.
Woran liegt das?
Es ist ein strukturelles Problem. In England wird schon beim Schreiben darauf geachtet, dass auch mal andere Perspektiven eingenommen werden. Von deutschen Autoren höre ich oft, dass ihnen das tatsächlich gar nicht einfällt. Immerhin schreiben sie die Geschichten ganz frei, die Rollen könnten entsprechen auch frei besetzt werden - aber da setzen dann Automatismen ein, die anerzogen sind. Es wird übersehen, dass eine nicht-weiße Person auch deutsch sein kann. Auch dass eine deutsche Familie eine schwarze Familie ist, kommt so gut wie gar nicht vor. In Deutschland muss der Autor leider Gottes ins Drehbuch schreiben: "Diese Person gehört zu dieser Ethnie" oder "Diese Person sitzt im Rollstuhl", sonst werden die Geschichten nicht so besetzt.
Sehen Sie auch beim Zuschauer ein Problem?
Ich glaube, der Zuschauer ist nicht das Problem. Man muss denen nicht mehr erklären, warum PoC (People of Color, Anm.d.Red.) Deutsch sprechen, die sind da deutlich weiter. Ich merke das auch bei "Rote Rosen": Meine Rolle dort ist kein Sympathieträger - aber das Feedback ist: "Ich find den gut" oder "Den mag ich nicht, der war gemein zu der Ärztin". Aber keiner der Zuschauer hat ein Problem damit, dass Dr. Althaus schwarz ist und perfekt Deutsch spricht.
Woher kommen diese Automatismen, die Sie vorhin erwähnten?
Da kommt die eigene Sozialisierung zum Tragen. Die hinterfragt man ja nicht jeden Tag aufs Neue. Ich merke das bei mir selbst: Ich bin ein schwarzer Deutscher, ich bin in Hamburg geboren und aufgewachsen - und auch ich habe Stereotype beigebracht bekommen und einfach so akzeptiert. Solchen Quatsch wie, dass asiatische Menschen angeblich kein R sprechen können. Was für ein Blödsinn. Ich glaube, der Kern des Problems liegt darin, wie wir Geschichte in der Schule beigebracht bekommen in Deutschland. Und das spiegelt sich dann in der Film- und Fernsehbranche wider.
"Color-blind Casting müsste der neue Standard werden"
Diesen Automatismen bei der Besetzung könnte man mit Color-blind Casting entgegenwirken.
Color-blind Casting müsste eigentlich der neue Standard werden. Es sollte in Krimis, Comedy oder Fiction unerheblich sein, wie die Hauptfigur aussieht. Ob Frau, Mann, schwarz, weiß oder asiatisch - in der Gesellschaft sind die doch alle vertreten. Der Knackpunkt ist immer noch unser Selbstverständnis, dass wir Deutschsein automatisch mit weißer Hautfarbe gleichsetzen. Ich glaube nicht, dass da eine böse Absicht dahintersteckt. Aber daran muss man arbeiten - und dafür ist Color-blind Casting ein wunderbares Mittel. Aber mal ganz abgesehen von Political Correctness: Es ist auch eine wirtschaftliche Entscheidung. Bei Formaten aus den USA, aber auch aus Europa, hat man beobachtet, dass diverser besetzte Filme und Serien tatsächlich besser beim Publikum abschneiden, weil mehr Menschen angesprochen werden. Das zeigt zum Beispiel der Erfolg von "Bridgerton".
Auf die Spitze getrieben hieße Color-blind Casting ja aber auch, dass ein Schwarzer einen Nazi spielen könnte. Geht das - oder stößt das Prinzip hier an seine Grenzen?
Ein schwarzer Nazi in einem klassisch deutschen Historienfilm geht vielleicht nicht. Allerdings möchte ich in dem Zusammenhang den britischen Film "Farming" erwähnen, in dem ein Schwarzer zum Anführer einer Nazi-Gruppe aufsteigt. Aber was bei uns geht, ist ein Perspektivwechsel. Ein häufiges Argument der Filmbranche ist, dass man geschichtlich korrekt arbeiten muss. Deshalb findet man in historischen Filmen, gerade auch im Kontext der Nazi-Zeit, nur ganz selten eine nicht-weiße Perspektive - was nicht bedeutet, dass es diese nicht gab. Die ersten schwarzen Menschen lebten schon lange vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland. Das wird schon im Geschichtsunterricht vergessen.
Haben Sie schon einmal "farbenblindes Casting" in Deutschland erlebt?
Bei der Telenovela "Rote Rosen" zum ersten Mal. Bei meiner Rolle ist es tatsächlich total unerheblich, welche Hautfarbe der Typ hat. Abgesehen davon habe ich Color-blind Casting in Deutschland noch nicht erlebt. Ich werde sonst immer für explizit schwarze Rollen gecastet und meistens sind die Figuren Ausländer. Da musste immer erklärt werden, warum die Figur in Deutschland ist.
Das ist bei Ihrer Rolle als Dr. Althaus in "Rote Rosen" anders. Dass er schwarz ist, spielt praktisch keine Rolle.
Das war einer der Gründe für mich, die Rolle bei "Rote Rosen" anzunehmen. Die haben frei über die Rolle dieses Arztes nachgedacht und überlegt: Er ist Deutscher - aber muss er unbedingt weiß sein? Und ich bin auch nicht die einzige PoC in der Serie, da gibt es noch die Kollegin Yun Huang (spielt Ellen Reichard, Anm.d.Red.). Die Figuren werden ganz normal erzählt, haben normale Jobs, sind erfolgreich. In meiner bisherigen Schauspielkarriere in Deutschland habe ich das so nur sehr selten erlebt.
"Wir sind seit den 90ern nicht sehr weit gekommen"
Sie haben in den 1990er-Jahren mit 17 erste kleinere Filmrollen übernommen, die Schauspielerei dann aber erst mal auf Eis gelegt, weil Ihnen nur stereotype Rollen angeboten wurden. Als Sie 2011 wieder ins Fach zurückgekehrt sind: War die Situation da fundamental anders?
Für mein Gefühl sind wir seit den 90ern nicht sehr weit gekommen. Sie haben es selbst gesehen: Wenn man um 20:15 Uhr durchs deutsche Fernsehprogramm zappt, sind Schwarze, Asiaten und andere Ethnien immer noch unterrepräsentiert. Eine spürbare Entwicklung gibt es in Deutschland erst seit den letzten drei, vier Jahren. Auch durch die harte Arbeit ganz vieler Communitys. Ich bin Teil der Gruppe "Vielfalt im Film", die eine Studie in Auftrag gegeben hat, um verbindliche Zahlen zur Diversität in der deutschen Branche zu bekommen. Damit haben wir offizielle Zahlen und nicht nur ein Gefühl.
Haben Sie schon einmal Rassismus am Set erlebt?
Ich selbst jetzt bewusst nicht. Allerdings habe ich einmal einen "Tatort" zusammen mit einer schwarzen Kollegin gedreht und ihr wurde dann am Set erklärt, "Du kommst in die Küche und wunderst Dich, dass da eine Mikrowelle steht, denn Du weißt nicht, was das ist." "Warum weiß ich das nicht", fragte sie. Antwort: "Na, weil Du aus Afrika bist." Da war keine böse Absicht dahinter, aber das bedient Stereotype und die werden durchs Fernsehen weitergetragen. Da versucht man als schwarzer Darsteller schon, Änderungen durchzusetzen. Aber das ist manchmal schwierig.
"Natürlich gibt es schwarze Drogendealer - aber eben nicht nur"
Im "Tatort" haben Sie 2016 einen "kongolesischen Kriegsflüchtling und Frauenquäler" gespielt, wie es eine Hamburger Boulevardzeitung damals ausgedrückt hat. Das klingt sehr nach Stereotype. Würden Sie diese Rolle heute noch spielen?
Wenn man als Schauspieler frei wählen kann, dann würde man diese Rolle vielleicht nicht annehmen. Natürlich spiele ich lieber Rollen, die einen positiven Impact haben. Im Fall des "Tatorts" war es aber so, dass das Drehbuch auf einer wahren Figur beruhte. Im ersten Moment dachte ich auch, was ist das für ein Blödsinn? Aber der "Tatort" erzählt die Geschichte von einem individuellen Menschen, der ganz unbehelligt in Deutschland lebte und tatsächlich im Kongo ein Rebellenführer war und die Geschäfte quasi aus dem Schrebergarten heraus geführt hat. Ich spielte den Bruder dieser Figur und ich fand die Geschichte ok. Ich habe auch kein Problem damit, dass Flüchtlingsgeschichten erzählt werden. Ich habe auch kein Problem damit, einen Flüchtling zu spielen. Womit ich ein Problem habe, ist, dass es überwiegend solche Rollen sind. Natürlich gibt es Flüchtlinge, natürlich gibt es schwarze Drogendealer - aber eben nicht nur. Die meisten Schwarzen in Deutschland leben ein anderes Leben, davon könnte man mal erzählen.
Muss man sich engagieren, wenn man zu einer unterrepräsentierten Gruppe gehört?
Als Filmemacher haben wir alle eine Verantwortung. Mir sind vor Jahren einmal zwei schwarze Schulkinder auf der Straße begegnet. Der Kleinere von den beiden war vielleicht sieben und sagte, er wolle später Arzt werden. Sagt der Größere: "Das kannst Du vergessen. Es gibt keine schwarzen Ärzte." Das hat mich erschreckt, deswegen habe ich "Die Schwarze Filmschaffende Community" mitgegründet. Nachdem "Tribute von Panem" in den USA herauskam, haben sich dort viel mehr Mädchen für Bogenschießen angemeldet. Die Bilder, die wir in Filmen erzeugen, haben einen Einfluss auf die Welt - positiv wie negativ. Aber jeder sollte versuchen, einen positiven Beitrag zur Gesellschaft leisten und sich im persönlich möglichen Rahmen engagieren.
"Eine aufgeschlossene Person zu sein, heißt nicht, fehlerfrei zu sein"
Ist es schwieriger geworden, sich öffentlich zu engagieren?
Ich stolpere in den Medien und sozialen Netzwerken in letzter Zeit immer wieder über Aussagen wie, dass man ja überhaupt nichts mehr sagen dürfe und sich die marginalisierten Gruppen mal nicht so anstellen sollen. Wann spricht mal jemand über die Vorteile von Parität und Fairness für die Gesellschaft? Durch den Dialog mit unterschiedlichen Communitys - Frauen, PoCs, queere Menschen oder Personen mit Beeinträchtigungen - ist mein Leben reicher geworden. Ich hoffe, ich gehe immer respektvoll mit allen um, aber ich weiß, dass man seinen Blickwinkel immer wieder überprüfen sollte. Ich möchte mir nicht selbst dafür auf Schulter klopfen, was für eine ach so offene Person ich doch bin, die nichts Neues mehr dazu lernen muss. Wohin diese Einstellung führt, konnte man zuletzt in der WDR-Sendung "Die letzte Instanz" sehen. Eine wirklich aufgeschlossene Person zu sein, heißt nicht, fehlerfrei zu sein, sondern offen für den Dialog.
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