Der Jubiläums-"Polizeiruf" ist eine poetische Perle – vor allem für Fans der Krimiserie. Man darf sich auf einen saufenden neuen Kommissar freuen. Außerdem gibt es tragikomische Zeugen, die zwar nichts gesehen haben, aber wilde Geschichten erzählen können.
Im letzten Jahr war es der "Tatort", dieses Jahr wird sein Cousin aus dem Osten 50 Jahre alt: Am Sonntag feiert der "Polizeiruf 110" sein Jubiläum.
Und ohne das Klischee von der armen Ost-Verwandtschaft überstrapazieren zu wollen, kann man sagen: Mit "An der Saale hellem Strande" geht der MDR den Geburtstag ganz anders an. Kein aufwändiges, hochemotionales cineastisches Meisterwerk wie die Doppelfolge "In der Familie", in der das Münchner und das Dortmunder "Tatort"-Team 2020 gemeinsam ein Mafia-Verbrechen klärten. Sondern der Mord an einem Kellner in Halle.
Das Geburtstagsgeschenk an die Zuschauer ist ein neues Ermittlerteam in der Stadt an der Saale – und der charmante Gastauftritt eines "Polizeiruf"-Stars, der als der "Schimanski des Ostens" galt und jetzt Fischstäbchen für die Enkel brät.
In einer Nacht vor drei Monaten ist ein Kellner nach Feierabend auf seinem Heimweg erstochen worden. Die beiden Kommissare Henry Koitzsch (
Alle sehen wir vor dem Schreibtisch der Ermittler sitzen: den Wichtigtuer. Die Alkoholikerin. Die selbstbewusste Prostituierte. Den vorbestraften armen Wicht, an den niemand mehr glaubt, nicht einmal seine kleine Tochter. Die lebenslustige Träumerin, die kellnert und singt und die Leere ihrer Ehe mit wechselnden Liebhabern füllt. Der alte Eisenbahner in Rente, der alle Straßenbahnfahrscheine aufbewahrt und es nicht fassen kann, dass er nun offenbar auch als Zeuge nutzlos geworden ist: An Besonderheiten der Tatnacht kann er sich nicht erinnern, ausgerechnet er, mit seinem so makellosen Gedächtnis für Abfahrtzeiten, Ankunftszeiten, Zugverbindungen. Aus jeder Zeugenaussage wird eine kleine Lebensgeschichte. Von Mitmenschen, die einen Einblick in ihren Alltag gewähren.
Regie führte der Leipziger Thomas Stuber, der zusammen mit dem Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer auch das Drehbuch geschrieben hat. Mit viel Ruhe und Anteilnahme fügen sie die Anekdoten zu einer intimen Charakter- und Milieustudie zusammen.
"Polizeiruf 110": Vielmehr Menschenstudie statt Mördersuche
Der "Polizeiruf 110" war 1971 die Reaktion des Ostfernsehens auf den beunruhigenden Erfolg des "Tatort" in der DDR. Der Kritiker Knut Elstermann schrieb anlässlich des "Tatort"-Jubiläums 2020: "Für den Blick auf den Osten, für seine besondere, noch lange nachwirkende Vergangenheit und widersprüchliche Gegenwart, sind heute eher die 'Polizeirufe' zuständig." Diese Charakterisierung bestätigt "An der Saale hellem Strande" in jeder Minute.
Der Film ist weniger Mördersuche als vielmehr Menschenstudie. Man muss Geduld aufbringen für diesen "Polizeiruf" – aber wer sich auf sein Tempo einlässt, wird mit einem detailfreudigen und meisterhaft gespielten Kuriositätenkabinett aus originellen Gestalten und ihren tragikomischen Schicksalen belohnt.
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Der lyrische Titel aber täuscht: Dieses Halle ist keine gefällige, sondern eine sperrige Stadt, mit sperrigen Bewohnern - und sperrigen Ermittlern. Das Zentrum bildet Henry Koitzsch, Hauptkommissar vom Typ "erfahrener Brummbär". Einer, der Zeugen und Verdächtige mal siezt, mal duzt, mal mit dem Krankenschwester-"Wie geht’s uns denn heute"-Wir anspricht, je nach Laune – oder Verhörtaktik? Die Beweggründe scheinen zu schwanken wie sein Gang, wenn Koitzsch mal wieder zu viel getrunken hat – was oft der Fall ist.
Allein lebt er, vielleicht einsam, schwer einzuschätzen ist dieser Mann, dem Schauspieler Peter Kurth in Höchstform alle Facetten eines verwundeten Alphatiers verleiht. Oberflächlich gesehen mag Koitzsch Gewohntes und Routine. Für Verhöre benutzt er ein analoges Aufnahmegerät, zum Mittagstisch geht er in den "Heidekrug" gegenüber, immer. Ob man nicht mal was anderes probieren wolle, schlägt der Kollege vor, "asiatisch oder so"? - "Nee."
Aber irgendwo tief drin steckt auch ein Abenteurer. Denn zur Routine scheint auch ein regelmäßiger Besuch im Gefängnis zu gehören. Der Insasse ist ein alter Freund mit Verbindungen ins Rotlichtmilieu. Die in die Zelle geschmuggelte Flasche Hochprozentiges trinkt der Kommissar später allein leer, direkt am Lichtermeer des nächtlichen Güterbahnhofs.
Melancholie und Schwermut im Übermaß
Koitzschs jüngerer Kollege ist sein Gegenteil: Kommissar Michael Lehmann (Peter Schneider), Familienvater und ehemaliger Krankenpfleger, auf dessen Seele die kranke Gesellschaft schwerer zu lasten scheint, als früher die verletzen Patienten. Und Michael Lehmanns Schwiegervater "Thomas" ist Thomas Grawe, gespielt von Andreas Schmidt-Schaller: zu DDR-Zeiten mit Lederjacke, langen Haaren und Privatleben einer der ungewöhnlichsten "Polizeiruf 110"-Ermittler.
Aber jetzt spricht er nur davon, dass dieses oder jenes "früher" anders war oder es "nicht gegeben" hat. Und so verkörpert ausgerechnet der progressive Kommissar von einst das einzige Problem dieses "Polizeiruf 110". Als eigenständiger Ensemblefilm wäre er ein großartiges Fernsehdrama. Im Bestreben aber, sich in die stolze Geschichte dieses vielfach preisgekrönten Formats einzureihen, dem einzigen, das (nach einer kurzen Unterbrechung 1991 bis 93) im gesamtdeutschen Hauptprogramm erfolgreich weiterlebt, haben Stuber und Meyer über ihr Ziel hinausgeschossen.
Gegen selbstbewusste Nostalgie ist nichts einzuwenden, aber angesichts der erschöpften Gestalten dieser Geschichte wird man den Eindruck nicht los, dass hier - wie im titelgebenden Volkslied - lieber melancholisch in alten Zeiten geschwelgt werden soll, anstatt optimistisch in die Zukunft zu blicken.
Und so ist "An der Saale" zwar eine poetische Polizeiruf-Perle für eine eingeschworene Gemeinde, die nicht zu Unrecht anmerkt, dass ihre Serie manchmal der bessere "Tatort" ist – aber ob man mit so viel Schwermut neue Krimifans überzeugen kann, die der "Polizeiruf 110" eigentlich unbedingt verdient hätte?
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