Jan-Ole Gersters Debütfilm "Oh Boy“ wurde von der Kritik gefeiert. Sieben Jahre ist das inzwischen her. Nach all dieser Zeit bringt er nun seinen zweiten Spielfilm "Lara“ in die Kinos. Und mit der Geschichte über eine komplizierte Mutter-Sohn-Beziehung ist Gerster ein schwerer, aber ebenso grandioser Film gelungen.

Eine Kritik

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Lara (Corinna Harfouch) ist kalt. Und sie ist verbittert. Das bekommt jeder zu spüren, der ihr auf ihrer Odyssee durch Berlin an ihrem 60. Geburtstag begegnet. Da ist zum Beispiel der Nachbar, der wohl gerne mehr für die pensionierte Beamtin wäre, den sie aber nur mit Herabwürdigung straft. Oder die ehemaligen Kolleginnen, denen die Angst vor ihr noch immer ins Gesicht geschrieben steht und denen Lara nichts als Gemeinheiten entgegenbringt.

Und da ist Sohn Viktor. Auch er, ein Pianist, bleibt nicht von Laras unfreundlicher und respektloser Art verschont. Immer wieder sucht seine Mutter an diesem Tag seine Nähe - nur um ihn dann wieder auf Distanz zu halten und von sich zu stoßen.

So würdigt sie etwa sein musikalisches Schaffen herab, obwohl Viktor ganz offensichtlich das Talent besitzt, ein großer Künstler zu werden. Ein Talent, das Lara, die ihm alles über das Klavierspielen beigebracht hat, lange Zeit gefördert hat. Doch ist es auch eben jenes Talent, das zwischen Lara und ihrem Sohn steht.

Viel mehr sollte man zur Handlung von "Lara" nicht wissen. Denn jedes weitere Detail, das man zur Geschichte von Jan-Ole Gersters neuem Film vorab erfährt, ist eines zu viel.

"Lara": Zuschauer bleiben auf sich gestellt

Gerster greift bei der Inszenierung von "Lara" auf einen Kniff zurück, für den heute nur noch wenige Regisseure den Mut aufbringen: Er erklärt dem Zuschauer rein gar nichts.

Es gibt keinen Erzähler, keine Rückblenden, keine inneren Monologe, die das Verhalten der Hauptfigur erklären. Warum erscheint Lara so herzlos? Was treibt sie an, was geht in ihr vor? Dafür liefert Gerster keine schnellen Antworten. Stattdessen nimmt er die Kinobesucher mit auf Laras willkürlich wirkenden Streifzug durch Berlin.

Mit jeder Station, die Lara dabei durchläuft, und mit jeder Begegnung, die sie macht, kristallisiert sich ihr Charakter stärker heraus. Gerster erzählt mit seinem Film nicht einfach nur eine Geschichte. Vielmehr erstellt er das Psychogramm einer Frau, das sich erst mit dem letzten Bild der letzten Szene vollends erschließt.

Und weil das Porträt dieser Frau mit jeder Minute an Farbe gewinnt, fällt es auch dem Zuschauer mit der Zeit leichter, die Handlung einzuordnen und zu verstehen, was Lara gebrochen hat.

Diese Erzählweise braucht Zeit. Zeit, die sich Jan-Ole Gerster bewusst nimmt, die den Film aber an einigen Stellen langatmig erscheinen lässt. Dass der Zuschauer so unvermittelt in Laras Leben geworfen wird und die Zusammenhänge selbst einordnen muss, macht Gersters Film so komplex.

Grandioses Schauspiel

"Lara" ist ein schwermütiger - und in diesem Genre typisch deutscher - Film. Gerster meidet jedoch die Fallstricke, an denen schon so manches Filmdrama aus heimischer Produktion gescheitert ist. Während sich durch viele andere deutsche Filme bedeutungsschwangere Dialoge ziehen, die kein Mensch tatsächlich so führen würde, fühlt sich bei Lara jede gesprochene Zeile echt an. Auch die Charaktere wirken greifbar, nicht konstruiert. Und auch wenn die Hauptfigur beim Zuschauer nur wenig Sympathie auslöst: Man kann sich doch kaum davon losreißen, sie in all ihren Widersprüchen zu beobachten.

Die Faszination für Lara, die als die personifizierte Antipathie daherkommt, ist dabei vor allem das Verdienst von Corinna Harfouch. Ihre schauspielerische Leistung ist grandios. Scheinbar mühelos stellt sie Lara dar, in all ihren Facetten.

Oft braucht sie dazu nicht einmal Worte. In einem Moment erscheint Lara noch unnahbar und arrogant. Wenige Sekunden später lässt Harfouch diese Fassade mit nur einem Blick in sich zusammenfallen und zeigt die ehemalige Beamtin als bis in ihren Kern verunsicherte Frau. Auf der Leinwand erzeugt Harfouch als Lara eine Sogkraft, die ihresgleichen sucht.

Neben Harfouch glänzt Tom Schilling in der Rolle des Sohnes Viktor. Er taucht nur in wenigen Szenen tatsächlich auf, ist aber von essenzieller Bedeutung für die Geschichte. Er ist der Fluchtpunkt, auf den sich der ganze Film zubewegt - ohne dass man genau weiß, wieso eigentlich. Schilling vermittelt glaubhaft, wie abhängig Viktor von seiner Mutter ist. Der Zuschauer leidet mit dem Sohn unwillkürlich mit, wenn der sich immer wieder von der eigenen Mutter kleinreden lassen muss.

Ein Film zum Grübeln

Jan-Ole Gerster hat mit "Lara" einen weniger zugänglichen und weitaus schwermütigeren Film als sein viel gelobtes Debüt "Oh Boy" vorgelegt. Denn auch wenn hie und da schwarzer Humor mitschwingt und der Film durchaus zu unterhalten vermag: Leicht verdauliches Wohlfühlkino ist "Lara" nicht.

Vielmehr ist der Film eine tiefgehende Charakterstudie über eine scheinbar gefühlskalte Frau, in der mehr Emotionen stecken, als man es für möglich hält. Um das als Zuschauer genießen zu können, muss man sich auf den Film einlassen - und sich mit dem Film auseinandersetzen.

Allein schon die unfassbar gut agierende Corinna Harfouch ist Grund genug, das zu tun. "Lara" ist ein herausragend inszeniertes Werk, das es wie nur wenige Filme schafft, seine Einzelteile zu einem vollkommen stimmigen Gesamtbild zusammenzufügen - und das einem auch nach dem Kinobesuch noch lange im Gedächtnis bleibt.

Wenn Sie sich vorab noch mehr zum Film informieren wollen: Zum Kinostart von "Lara" trafen wir Regisseur Jan-Ole Gersters und Darsteller Tom Schilling zum Interview.

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