Zu viel Jenke, zu wenig Crime: In der jüngsten Ausgabe von ProSiebens True-Crime-Format "Jenke. Crime." trifft sich Reporter Jenke von Wilmsdorff mit dem verurteilten Mörder Dieter Gurkasch. Dabei erfährt der Zuschauer eine Menge über Gurkaschs Geschichte, über den Sinn von Gefängnissen und über "den Mörder in uns". Leider aber auch viel zu viel über die Meinung von Jenke von Wilmsdorff.
"Du bist der erste Mörder, mit dem ich hier sitze." Es gibt zweifelsfrei bessere Sätze, die man für einen Gesprächseinstieg wählen kann. Doch in diesem Fall ist so ein Satz besonders unangebracht. Denn als ProSieben-Reporter
"Du bist der erste Mörder, mit dem ich hier sitze" drückt zum einen eine Exklusivität des Augenblicks aus, aber keine positive. Dieser Satz lässt keine Augenhöhe zu, sondern urteilt und unterteilt sofort: Ich, der Redliche, hier mit dir, dem Mörder. Vor allem aber rückt es den in den Mittelpunkt, um den es in einer Reportage eigentlich am wenigsten gehen sollte: den Reporter.
Nun könnte es sich hierbei einfach um einen schlecht gewählten Einstieg handeln, wie er eben mal passiert, aber bei Jenke von Wilmsdorff und seinen "Jenke. Crime."-Reportagen ist die Ich-Perspektive kein Versehen, sondern Prinzip. Doch auch bei einem Format wie "Jenke. Crime." sollte es eigentlich nicht um "Jenke." gehen, sondern um "Crime." - also den Täter und seine Tat.
Dieter Gurkasch: Mörder und Yoga-Lehrer
Dieser Täter ist in der jüngsten Ausgabe von "Jenke. Crime." ebenjener Dieter Gurkasch und für seine Tat muss man ins Jahr 1985 zurückgehen. Der damals 23-jährige Gurkasch ist drogenabhängig und will mit einem Komplizen eigentlich in Hamburg einen Supermarkt überfallen. Auf dem Weg dorthin gehen sie aber in einen Tante-Emma-Laden, in dem Gurkasch die 55-jährige Angestellte mit einem Sprung auf den Kopf so schwer verletzt, dass sie drei Wochen später an den Verletzungen stirbt.
Gurkasch wird geschnappt und zu einer Haftstrafe von 13 Jahren verurteilt. Nach seiner Entlassung läuft er unter Drogeneinfluss und bewaffnet durch Hamburg, schießt vor einer Jugendgang auf den Boden, als er mit ihr aneinander gerät. Als die Polizei ihn wenig später stellen will, kommt es zur Schießerei, bei der Gurkasch schwer verwundet wird. Er wird zweimal reanimiert, überlebt aber und wird diesmal zu zwölf Jahren mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.
Noch im Gefängnis kommt er mit Yoga und Meditation in Berührung, was sein Leben verändert. Er gründet im Gefängnis eine Yoga-Gruppe und unterrichtet auch nach seiner Entlassung, nachdem Sicherungsverwahrung als verfassungswidrig erklärt wird, Gefängnisinsassen in Yoga. Nun trifft er sich mit Jenke von Wilmsdorff, einer Kriminalpsychologin, einem Jugendrichter und einem Strafverteidiger, um seine Geschichte zu erzählen – wobei "seine Geschichte erzählen und beurteilen lassen" vielleicht passender wäre.
"Jenke. Crime.": Einspruch, Suggestiv-Frage!
Denn Jenke von Wilmsdorf beginnt die jüngste Folge bereits voreingenommen: "Darf man einem Verbrecher wie ihm überhaupt eine Plattform geben?", fragt von Wilmsdorff suggestiv und ohne zu erklären, was genau er mit "eine Plattform geben" überhaupt meint. Über dessen Verbrechen berichten – warum denn nicht? Doch auch von Wilmsdorffs weitere Fragen sind erklärungsbedürftig.
Denn von Wilmsdorf will "unbequeme Fragens stellen" und mit Experten sprechen, "um am Ende zu versuchen, die eine, entscheidende Frage zu beantworten: 'Hat ein Mörder eine zweite Chance verdient?'" Da muss man doch mal nachfragen: Wieso ist das die entscheidende Frage? Eine zweite Chance worauf? Zu leben? Wieder in Freiheit zu sein? Glücklich zu sein? Was, wenn man die Frage verneint: Todesstrafe? Für immer einsperren?
Doch von Wilmsdorff erklärt nicht, sondern beschäftigt sich erst einmal mit seinen Gefühlen und denen seiner Kollegen. Teile seines Teams hätten Angst vor Gurkasch gehabt, weil das Wissen, dass er ein Mörder ist, "das komplette Bild ändert." Schon an dieser Stelle merkt man, dass es von Wilmsdorff gerne einfach hätte bei der Beurteilung seines Gegenübers und so ist er entsprechend irritiert, als Gurkasch sagt, dass es "das Arschloch in ihm" immer noch gebe: "Grundlegende Charakterzüge eines Menschen ändern sich nicht."
Von Wilmsdorff: "Nicht das, was ich von einem verurteilten Mörder hören will"
"Eine Aussage, die mir in seinem Fall Angst macht. Das ist nicht das, was ich von einem verurteilten Mörder hören will", erklärt von Wilmsdorff, dabei hat er wenige Minuten vorher noch erklärt: "Doch wer Straftäter verstehen will, wer aufklären und vermeiden will, muss sich mit ihnen an einen Tisch setzen, denn ein Mensch ist niemals von Geburt an böse." Es ist einerseits menschlich verständlich, dass von Wilmsdorff nach Verlässlichem sucht. Schwierig wird es, wenn er diese Suche nicht neutral, sondern wertend angeht. Als ob sich der Zuschauer nicht selbst ein Bild machen kann.
Immerhin holt von Wilmsdorff Experten hinzu, die für ihn und die Zuschauer Fakten und Zitate einordnen. Zum Beispiel Kriminalpsychologin Katrin Streich. Als Gurkasch über seinen damaligen Zustand sagt "ich war todessehnsüchtig" und auf die Frage nach dem Warum "Weiß ich nicht" und auf die Frage nach dem Warum mit dieser Brutalität "Das war einfach nur das Entladen von Zorn" antwortet, fragt von Wilmsdorff Streich, ob diese Gewaltbereitschaft theoretisch in jedem von uns steckt.
"In jedem steckt die Bereitschaft, wenn es darauf ankommt, jemanden zu töten"
"Ich glaube, in jedem steckt die Bereitschaft, wenn es darauf ankommt, jemanden zu töten", erklärt Streich und präzisiert diese Aussage mit Blick auf die Tat: "Die Wut muss groß genug sein." Die Erklärung der Psychologin für die Tat ist, dass Gurkasch zu diesem Zeitpunkt "frei jeglicher Empathie war." Das, so Streich, bedeute nicht, dass Gurkasch ein grundsätzlich empathieloser Mensch sein muss, denn diese Empathie könne von anderen Gefühlen wie Wut überlagert werden.
Es ist gut, dass von Wilmsdorff Experten und Expertinnen wie Streich in seine Reportage einbaut und den Zuschauer nicht alleine seinen Gefühlen und Werturteilen überlässt, als Gurkasch sich, seine Geschichte und seine Tat erklärt. Gut ist auch, dass von Wilmsdorff nicht nur die Tat im Speziellen, sondern Taten im Allgemeinen thematisiert. Etwa, als er über den Sinn von Gefängnissen als Orte der Resozialisierung mit einem Jugendrichter, einem Strafverteidiger, einem ehemaligen JVA-Mitarbeiter und natürlich mit Gurkasch selbst spricht.
"Ich habe die Isolationshaft nur überstanden, weil ich gehasst habe", erklärt Gurkasch hier beispielsweise und dass er mit diesem Gefühl dann entlassen wurde. "Sieben Jahre Isolationshaft ist die unbeholfene Antwort des Systems auf jemanden, der sich nicht an Regeln hält und hat natürlich nur einen positiven Effekt, nämlich, dass dieser Mensch in der Zeit nichts anstellen kann innerhalb der Haft. Das ist aber auch das einzig Positive", erklärt Psychologin Streich dazu.
In Momenten wie diesen ist die jüngste Ausgabe von "Jenke. Crime." am stärksten, weil sie mehrere Perspektiven beleuchtet und Hintergründe erklärt, statt nur zu werten. Doch von Wilmsdorff hält diese Sachlichkeit nicht durchgängig durch und so wundert es nicht, dass er am Ende mit Gurkasch aneinandergerät, als er Gurkaschs Aussage über die grundlegenden Charakterzüge eines Menschen noch einmal thematisiert.
Dieter Gurkasch: "Ihr tut mir leid, wenn ihr so im Misstrauen versinkt"
"Wie sicher bist du heute für die Gesellschaft oder wie gefährlich nach wie vor?", will Jenke von Gurkasch wissen. Doch als der mit einem "Ich bin Botschafter der Liebe" antwortet, gibt sich Jenke damit nicht zufrieden, erinnert Gurkasch an seine Aussage. "Du möchtest das ja unbedingt in den Mittelpunkt bringen, das machst du ja schon die ganze Zeit. Dass von mir eine Gefahr ausgeht", wirft Gurkasch dem Reporter vor und hakt nach: "Seit zehn Jahren lebe ich straffrei und du fragst mich, ob von mir eine Gefahr ausgeht?"
"Jeder Mensch kann gefährlich sein. Das weiß man doch auch von dir nicht", versucht Gurkasch einen anderen Erkläransatz, doch auch hier will von Wilmsdorff wieder absolute Gewissheit haben. Denn dass man Gurkasch misstraut, finde er "ein relativ normales Verhalten."
Gurkaschs Reaktion: "Ehrlich? Nach zehn Jahren? Dann tut ihr mir leid, wenn ihr so im Misstrauen versinkt." Und auch hier ist es wieder gut, dass Psychologin Streich einordnet: "Ich glaube nicht, dass jeder zum Mörder werden kann. Ich glaube, dass jeder Mensch dazu in der Lage ist, einen anderen umzubringen." Es komme immer auf das aktuelle Risiko an, eine Gewalttat zu begehen. Die Vergangenheit des Täters könne man nicht außen vorlassen, sie sage aber nichts über das aktuelle Risiko aus.
Und damit wäre man dann auch bei von Wilmsdorffs Frage nach der zweiten Chance. "Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch zurückzukommen kann", sagt Gurkasch und es hätte ein schönes Schlusswort sein können. Doch auch hier möchte von Wilmsdorff den Zuschauer lieber mit seinem Faible für die Meinung von von Wilmsdorff entlassen und drückt noch einmal auf die Pathos-Tube: "Was wünscht man einem Menschen wie ihm? Einem Mörder. Dass er niemals vergisst, welch großes Leid er verursacht hat. Dass er niemals wieder eine Straftat begeht und dass er möglichst viele junge Straftäter, davon überzeugt, einen anderen, einen rechten Weg einzuschlagen."
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