"20 Jahre Feste - Silbereisen feiert" - 20 Jahre Volksmusikfeste im Ersten, das ist der ARD eine dreistündige Sondersendung wert. Unser Autor hat sie sich angesehen. Komplett. Und ist zu einer überraschenden Erkenntnis gelangt.
Florian Silbereisen und ich hatten bisher eine ziemliche einfache Beziehung. Flori, wie ich ihn liebevoll nenne, moderierte, ich schaltete weg. Ein Win-Win-Situation für beide Seiten. Bis jetzt. Flori feiert "20 Jahre Feste", ich feiere mit. Drei Stunden. 180 Minuten, 10.800 Sekunden, an einem Samstagabend. Ohne jegliche Werbeunterbrechung. Eine Prüfung des Willens, Mensch gegen Maschine, schlechte Laune gegen heile heile Schlagerwelt. Lesen Sie hier das Protokoll des Durchhaltens.
20:15 Uhr Der Sprecher redet und redet. Er schreit. Seine Worte erscheinen so groß auf dem Bildschirm, dass es selbst der kurzsichtigste Zuschauer lesen kann. Für den Fall, dass ihm sein Hörgerät schon bei dieser hysterischen Ankündigung durchgebrannt ist. 700 Millionen Menschen haben laut meiner Fernsehzeitschrift die Showreihe in den letzten 20 Jahren gesehen. Das ist ein Zehntel der Weltbevölkerung. Kein Wunder, dass unser Planet so aussieht, wie er aussieht.
20:18 Uhr Es geht los. Die Volksmusik, der Schlager, der volkstümliche Schlager (?) stampft, das Publikum klatscht im Viervierteltakt. Flori trägt jetzt schwarz. Also auf dem Kopf. Sieht aber irgendwie schlecht gefärbt aus. Geht er zum gleichen Friseur wie Altkanzler Schröder? Außerdem sind die Hosen verdächtig eng. Er wird doch heute morgen nicht aus Versehen die Buchse von
20:19 Uhr Die Gäste kommen alle gleichzeitig auf die Bühne. Das kenne ich irgendwoher. Ach ja, "Wetten, dass ..?".
20:20 Uhr Bereits eine Minute später der erste musikalische Gast.
20:23 Uhr Hansi geht ins Publikum. Altersschnitt: geschätzte 92. Die Kamera konzentriert sich für die Quote auf vereinzelte Enkel. Tätowierte Cheerleader rascheln mit ihren Pompons. Halbnackte Tänzer hüpfen durch die Gegend. So progressiv ist man im Ersten? Respekt. Alles steht, alles klatscht. Ist das wie bei der Nationalhymne? Gehört das so oder kann das weg? Ich bleibe erstmal sitzen.
20:28 Uhr Flori singt. Ein verdienter Mitarbeiter steht vor ihm. Er ist seit zwanzig Jahren dabei. Das ist sein Lohn. Wie er das wohl durchgestanden hat? Er verzieht keine Miene und fixiert Silbereisen. Vielleicht ist das die Lösung.
20:31 Uhr Die Gäste sitzen alle an einem Pult. Jetzt kommt das Quiz. Das kenne ich irgendwoher. Ach ja: "Dalli Dalli". Das war Spitze. Das hier nicht. Sorry, Flori.
20:34 Uhr Silbereisen will wissen, wer der vier Gäste schon bei der ersten Show 1994 dabei war. Andy Borg schreibt auf seine Karte "Mary Roos". Die Antwort ist "Andy Borg". Das ist der Beweis: 20 Jahre volkstümlicher Schlager gehen an niemandem spurlos vorbei
20:36 Uhr Nicole singt. Es wird wieder geklatscht. Natürlich. Ich wünsche mir ein bisschen Frieden. Bekomme ihn aber nicht. Das Lied singt sie natürlich trotzdem noch. Das macht es nicht besser.
20:53 Uhr Birgit Schrowange singt. Ja, Sie haben richtig gelesen. Natürlich Schlager. Sie ist "faul und das ist auch gut so". Dabei liegt sie quer auf den Armen von vier vor Steroiden nur so strotzenden Männern. Da schaue ich doch lieber 20 Jahre "Extra" am Stück
21:02 Uhr Helene Fischer ist da! Helene Fischer ist da! Hele … Ach nee, das ist Beatrice Egli. Dieter Bohlens Klon aus dem "DSDS"-Labor. Egal, sie ist auch ganz nett anzuschauen.
21:08 Uhr Es folgt das erfolgreichste Schlagerduo Ostdeutschlands. Ute Freudenberg und Christian Lais. Noch nie von den beiden gehört. Außerdem dachte ich, es gebe kein Ost- und Westdeutschland mehr. Bei Flori Silbereisen ist die Welt halt noch in Ordnung.
21:15 Uhr Jetzt singt auch noch
21:18 Uhr Ross Antony will irgendjemandem goldene Pferde schenken. Dabei hüpft er wie in besten Bro'Sis-Zeiten von einem Bein aufs andere und zieht unsichtbare Seile zu sich heran. Das Leben nach der Castinghölle ist auch nicht leicht.
21:22 Uhr Flori und Ross tanzen in Schürzen, in den Händen Kochlöffel. Backe, backe Kuchen, die Klapse hat gerufen.
21:24 Uhr Ich erwische mich dabei, lethargisch mitzuwippen. Ich halte meine Füße fest. Ich muss mich zusammenreißen.
21:28 Uhr Jetzt ist Mary Roos dran. Also mit ihrem Lied, nicht mit den Kochlöffeln. Sie singt live. Respekt. Leider hört man das auch.
21.41 Uhr. Großes Oh und Ah. Hundewelpen im Studio. Dem Flori ist aber auch jedes Mittel recht. Süüüüüüß!
21:45 Uhr Andy Borgs Lied heißt "Zärtlicher Schlawiner". Wirklich.
21:46 Uhr Borg ist wohl so etwas wie der Klassenclown des Schlagers. Andy und ich haben bis jetzt 90 Minuten miteinander verbracht. Ich kann mich nicht erinnern, dass es in meinem Zwerchfell auch nur gekribbelt hätte.
21:52 Uhr Endlich, die ersten Lederhosen. Volkstümliche Musi. I freu mi! Scheint eine Art Bayern-Boyband zu sein, "Voxxclub". "Volksmusik macht Spaß, auch wenn es keiner zugibt", sagt Silbereisen. Flori, noch mal für dich zum Mitschreiben: DAS MACHT KEINEN SPASS. KANNSTE RUHIG GLAUBEN.
22:29 Uhr Ich muss wohl kurz eingenickt sein und träume immer noch. Arwen aus "Herr der Ringe" ist da. Aber warum singt die dann? Verdammt, das ist Senta-Sofia Delliponti aus "Gute Zeiten, schlechte Zeiten". Die gibt jetzt unter dem Namen "Oonagh"die Feenkönigin. Und singt tatsächlich in elbisch. Silbereisen sagt, dass er ihr wohl mit seiner Show zum großen Durchbruch verholfen hat. Na schönen Dank!
22:35 Uhr Durchtrainierte Männer in Lederhosen hauen sich auf den Hintern. Flori sagt, man will zeigen, dass Volksmusik Spaß macht. Schon wieder. Überhaupt ist der Anteil an gutaussehenden Tänzern in der Show verdächtig hoch. Erst eine Boyband und jetzt das. Kann es vielleicht sein, dass ..? Nein, unmöglich. Das ist die ARD.
22:46 Uhr Schon wieder Tänzer. Diesmal in Röcken. Also irgendwas stimmt hier doch nicht. Vielleicht kann es doch sein ..? Ich bin mir nicht mehr ganz so sicher.
22:58 Uhr Andrea Berg ist da. Wenigstens hat sie das Ledermieder zu Hause gelassen. Durchtrainierte Männer winden sich mit nacktem Oberkörper vor ihr. Kein "vielleicht". Es muss so sein!
23:10 Uhr Ist Florian Silbereisen nicht mit Helene Fischer liiert? Jetzt ist aller klar. Flori, du Teufelskerl!
23:15 Uhr Es ist vobei und ich habe endlich verstanden. Nach zähen 180 Minuten ohne jeglichen Unterhaltungswert. Aber egal, das ist unerheblich. Die Katharsis kommt bekanntlich nach dem Leid. Die Silbereisen-Feste im Ersten sind subversiver, als ich es mir je hätte vorstellen können. Ein Aufklärungsprogramm getarnt als Volksmusik- und Schlagerzirkus. Den wohl reaktionärsten und konservativsten Musikgenres. Die Idee diese mit dezenten Zitaten schwuler Subkultur zu unterwandern, ist geradezu genial. Denn auch wenn Homosexuelle in den letzten Jahrzehnten immer mehr Rechte und Anerkennung gewonnen haben, kann von einer Gleichstellung noch keine Rede sein. Also muss man da anfangen, wo es weh tut. In der Volksmusik. Im Schlager. Samstagabend um Samstagabend. 700 Millionen Menschen. Bis es auch der letzte verstanden hat: Wir sind alle gleich. Flori, du Teufelskerl!
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