Wie viele Popel gehören an eine Wildlederwand? Falls Sie sich das noch nie gefragt haben, ist spätestens jetzt der Zeitpunkt, das nachzuholen. Dann wären Sie nur minimal langsamer als Bill und Tom Kaulitz, die dieser Frage in der neuesten Folge ihres Podcasts "Kaulitz Hills" nachgehen. Doch damit öffnen die beiden die Büchse der Pandora.
"Ich bin ganz schön durch den Wind", begrüßt
Denn Kaulitz' Aussehen ist ein Paradebeispiel dafür, wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander umgehen und genau darum soll es im Folgenden gehen. Denn Bill bringt noch ein weiteres Ereignis mit in die Folge, das ihn bei seinem Hinflug ereilt hat. Er sei in der First Class geflogen und in seinem Luxus-Aufenthaltsbereich habe er Entsetzliches erleben müssen. Der Fairness wegen sei für empfindsame Seelen hier ein kurzer Warnhinweis erlaubt: Es ist gut möglich, dass es im Folgenden um Nasensekret gehen wird. Es ist sogar ziemlich sicher.
Bill wurde nämlich Zeuge, Sie wurden ja gewarnt, wie ein Mitreisender nicht nur leidenschaftlich in seiner Nase gepopelt, sondern die Ausbeute dieser Leidenschaft auch noch in einem viel zu lang dauernden Prozess an die Wildlederwand der First-Class-Kabine geschmiert habe. "Das war so ekelhaft", beschreibt Bill diesen quälenden Vorgang. Tom bekommt bei der Erzählung eine Gänsehaut und jeder, der eine bildhafte Fantasie sein Eigen nennt, wird das nachvollziehen können.
Wohin gehören eigentlich Popel?
Da wir nun schon den Bereich des Unappetitlichen betreten haben: Ist Ihnen einmal aufgefallen, dass Popel nirgends einen Platz haben? Sie gehören nicht in die Nase – finden die Träger. Sie gehören auch nicht außerhalb der Nase – finden alle anderen. Was also tun? Es ist ja nicht so, dass man da viele Alternativen hätte. Schuhe zum Beispiel, die kann man tragen – was nirgends einen Verdacht erweckt. Trägt man Schuhe nicht, kann man sie vielleicht in einen Schuhschrank stellen und niemand wäre pikiert. Bei Popeln hat man diese Optionen nicht. Nicht nur das: Man hat gar keine Optionen. Popel dürfte es gar nicht geben!
Doch zurück zum eigentlichen Thema, denn Tom eröffnet damit gleichzeitig, er wird es nicht gewusst haben, ein ganz neues Feld, über das nachzudenken sich lohnt. Der Gitarrist gibt nämlich seine Freude zu Protokoll, dass die Lufthansa 2024 die Ausstattung ihrer Flugzeuge neu gestalte. Toms Freude rührt aber offenbar nicht von der Ästhetik des Neuen her, sondern vom Ersatz des Alten: "Wenn ich mir vorstelle, wie viele Popel da schon hängen", greift Tom den Fall des Wildlederwand-Schmierers auf.
Da ist auch Bill Feuer und Flamme: "Wie viele Leute da schon reingeschwitzt und reingefurzt haben!" In der Tat eine interessante Vorstellung. Statistisch wird man das nicht mehr rekonstruieren können, ich denke, eine Befragung wäre für beide Parteien unangenehm. Aber philosophisch, da kann man noch was machen. Denn im Raum steht bei der Vorstellung, wie viele Popel da schon in den Flugzeugsitzen hängen, ja die Frage: Wie viel Vergangenheit möchte man denn eigentlich wissen?
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Wie viel Vergangenheit darf’s denn sein?
Bisher glaubte man ja, der Mensch wolle vor allem etwas über die Zukunft erfahren. Aus diesem Grund gibt es zum Beispiel den Beruf des Wahrsagers. Die sollen ja in die Zukunft blicken und nicht in die Vergangenheit, das machen Historiker. Das macht es den Wahrsagern natürlich etwas schwerer als den Historikern, aber wenn ich das richtig verstehe, gibt es bei Wahrsagern dafür keine Gewährleistungspflichten oder eine Sachmängelhaftung. Manche Menschen hingegen wollen ihre Zukunft gar nicht kennen. Das ist völlig in Ordnung, ich glaube nur, manchmal ist es wichtiger, die Vergangenheit nicht zu kennen.
Denn wüssten wir zu viel über die Vergangenheit, würde uns das in gewisser Weise lähmen. Hätten wir etwa einen genauen Lageplan aller jemals verschmierter Popel, wir würden uns kaum aus dem Haus trauen. Man weiß eben nicht, was wann und wo passiert ist - und das ist auch gut so, schließlich ist die Vergangenheit in der Gegenwart immer aktuell. Das Blöde: Die Zukunft auch. Denn die Zukunft hängt sehr stark von der Vergangenheit ab, also von der aktuellen Gegenwart. Machen wir das mal an einem Beispiel fest.
Wenn sich Männer beim Frisör einen sogenannten Edgar Cut schneiden lassen, weil der gerade Trend ist, dann sollten sie in der Gegenwart einberechnen, dass sie in der Zukunft wie ein Idiot aussehen werden, weil sie ja in der zur Vergangenheit werdenden Gegenwart diese falsche Entscheidung getroffen haben, von deren Richtigkeit sie aber damals, also jetzt, in der Gegenwart, überzeugt gewesen waren. In der Zukunft, also in der Zeit nach der aktuellen Gegenwart, wird man dann nämlich die Spuren der Vergangenheit, also der damaligen Gegenwart, zu spüren bekommen und sich wünschen, in der Vergangenheit nicht nur an die Gegenwart, sondern auch an die Zukunft gedacht zu haben.
In der Gegenwart leben, an die Zukunft denken, die Vergangenheit im Kopf
Zum Glück hat in diesem speziellen Fall die falsche Entscheidung in der Gegenwart nur optische Konsequenzen für die Zukunft. Denn ein Edgar Cut unterscheidet sich von einem an die Wildlederwand der ersten Klasse geschmierten Popel in einem wichtigen Punkt. Ein Edgar-Cut ist nur ästhetisch eine Zumutung, in einen Edgar Cut fasst man nicht aus Versehen rein. Trotzdem hat es, wie gesehen, viele Vorteile, nicht nur an die Gegenwart zu denken, sondern auch an die Gegenwart von morgen, also die Zukunft, denn da habe ich schlechte Nachrichten für alle Neuwagenbesitzer.
Denn wenn man unbedingt einen Neuwagen haben möchte, manche Menschen möchten das ja, sollte man einkalkulieren, dass ein "Neu"-Zustand ein sehr flüchtiger Moment ist. So ein Neuwagen ist eben schneller alt als man Überführungskosten sagen kann und schon eine Woche nach dem Kauf wird man sich vielleicht fragen, ob der Partner nicht inzwischen irgendwo einen Popel ans Lenkrad geschmiert hat und schon ist die Vergangenheitsvorstellungsspirale wieder in Gang gesetzt.
Eine Lösung wäre nun, und das Gebot der Nachhaltigkeit verlangt es ohnehin, nur noch gebrauchte Sachen zu kaufen. Denn alte Sachen werden ohnehin niemals wieder neu, neue Sachen hingegen ziemlich schnell alt. Aber bevor Sie jetzt anfangen, sich nur noch einen Kopf über die Zukunft zu machen: Es hat auch viele Vorteile, die Vergangenheit zu kennen. Wüssten wir zum Beispiel nicht, wohin rechtes Gedankengut geführt hat, würden wir heute vielleicht wieder rechtspopulistische Parteien wählen. Das wäre ja ziemlich dumm. Dann lieber einen Edgar Cut.
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