Im Dezember jährt sich der Todestag von Udo Jürgens zum zehnten Mal, am 30. September wäre der Musiker und Komponist 90 Jahre alt geworden. Zu diesem Anlass haben seine Kinder Jenny (57) und John Jürgens (60) eine Auswahl von Single-Veröffentlichungen ihres Vaters zusammengestellt. Das Album "udo 90" enthält zudem einen bis dato unveröffentlichten Song. Im Interview mit unserer Redaktion erinnern Jenny und John an ihren berühmten Vater, gewähren private Einblicke und reflektieren, wie Udo Jürgens wohl auf die Krisen der heutigen Zeit reagiert hätte.
Frau und Herr Jürgens, auf dem "
Jenny Jürgens: Wie ich meinen Vater in Erinnerung behalten habe, hat nichts mit seiner Kleidung oder seinem Styling zu tun. Ich erinnere mich an ganz andere Dinge: an seine Stimme, an seinen Blick auf die Welt, an seinen Tiefgang, aber auch daran, wie man mit ihm herumalbern konnte. Was seine Optik angeht, hatte er in den 80ern eine ganz besondere Phase. Er trug seine Haare damals etwas länger und sah unglaublich gut aus. Diese Bilder habe ich noch ziemlich präsent vor Augen.
John Jürgens: Daran erinnere ich mich auch noch gut. In dieser Zeit ist er schwer auf die 50 zugegangen – und hat auch schwer darüber gegrübelt.
Wie war Ihr Vater privat?
Jenny Jürgens: Im privaten Umgang war er sehr uneitel. Diese Seite an ihm hat mir gut gefallen. Natürlich war unser Vater immer gepflegt und vor allem bei öffentlichen Anlässen elegant gekleidet.
John Jürgens: Wenn wir in Portugal waren (Udo Jürgens hatte eine Ferienvilla an der Algarve; Anm. d. Red.), trug er im Übrigen immer einen bunten Bademantel – also keinen weißen, wie bei seinen Zugaben auf der Bühne. Vor meinem geistigen Auge sehe ich ihn in diesem Bademantel, lässig zugeschnürt und die Haare leicht verstrubbelt. Aus diesen 50 gemeinsamen Jahren, die sich eigentlich wie 60 anfühlen, weil er nach wie vor immer bei und mit uns ist, habe ich die unterschiedlichsten Bilder im Kopf.
Jenny Jürgens: Jedenfalls war er immer ein Mann mit Klasse.
John Jürgens: Stimmt, sogar im Bademantel. Er hatte wirklich eine beeindruckende Aura. Mein Vater besuchte mich hin und wieder in New York, wo ich eine Zeit lang gelebt habe. Selbst dort schauten die Leute zu ihm auf, wenn er ein Restaurant betrat – obwohl sie gar nicht wussten, wer er war oder was er tat.
Udo Jürgens: Diesen Song mochte er nicht besonders
Auf dem neuen Album anlässlich des 90. Geburtstags von Udo Jürgens, das Sie beide zusammengestellt haben, befinden sich 90+1 Lieder. Wie schwer ist Ihnen die Auswahl gefallen?
John Jürgens: Mit Blick auf die über 500 Songs, die im Verlauf seiner Karriere erschienen sind, hatten wir natürlich eine große Auswahl. Ein ganzes Jahr lang waren wir mit diesem Jubiläumsjahr beschäftigt.
Jenny Jürgens: Uns war es wichtig, den ganzen Udo mit all seinen Facetten zu zeigen. Dazu gehört auch die Lebensphase, in der er sich aus dem Schlager herausarbeitete, um Musik mit Tiefgang machen zu können. Er wollte mehr. Das Album wird mit "Es waren Weiße Chrysanthemen" aus dem Jahr 1956 eröffnet. Zwar war unser Vater nicht der allergrößte Fan dieses Liedes, aber auch dieser Song war eben ein Teil von ihm.
John Jürgens: Wir sagen nicht, dass es die besten 90 Songs von Udo Jürgens sind. Am Ende ist das auch immer Geschmackssache. Unser Ziel war es, eine bunte Mischung aus fröhlichen, nachdenklichen und Liedern mit Botschaft zusammenzustellen. Übrigens fand ich die "Weißen Chrysanthemen" gar nicht so schlimm, Udo hingegen mochte diesen Titel nicht besonders. Der Song war aber wichtig, weil er bei ihm zu einem Umdenken beitrug. Denn er erkannte, dass dies nicht die Art von Musik war, die er in Zukunft machen wollte.
Jenny Jürgens: Ich habe großen Respekt davor, dass er den Mut aufbrachte, aus einem sicheren Kokon auszubrechen. So etwas birgt schließlich immer auch Gefahren.
Wie ist ihm das gelungen?
John Jürgens: Das geht aus seinen Kassetten hervor, die ich in den vergangenen Jahren digitalisiert habe. Udo nahm seine Ideen immer auf Musiktapes auf. Bei meiner Recherche bin ich auf interessante Notizen und Gespräche gestoßen. Zum Beispiel hat er sich mit seinem Produzenten Rock- und Popkünstler der damaligen Zeit angehört und sich von deren Sound inspirieren lassen. Er hat sich nie an den alten Dingen festgehalten, sondern sich immer weiterentwickelt. Und es könnte ja sein, dass auch wir eine kleine Rolle dabei gespielt haben, oder?
Jenny Jürgens: Er kannte natürlich unseren Musikgeschmack. Wir waren damals schon sehr funky unterwegs, hörten die Musik von Bands wie Supertramp oder Toto. Unserem Vater war es sehr wichtig, dass wir ihn nicht als spießig empfanden.
John Jürgens: Genau. Er wollte, dass wir ihn cool finden und stolz auf ihn sind. Eigentlich haben wir ihn vielleicht ein wenig geprägt (lacht).
Was macht Sie sicher, dass Sie mit diesem Album den Geschmack Ihres Vaters getroffen hätten?
Jenny Jürgens: Zunächst einmal können wir ihn nicht mehr fragen. Das ist nun einmal Tatsache. Natürlich gibt es immer wieder Situationen im Leben, in denen wir uns mit der Frage "Was hätte Papa gedacht?" auseinandersetzen. Aber wir kannten ihn sehr gut. Schließlich haben wir viel Zeit miteinander verbracht und viele Gespräche mit ihm geführt. Daran haben wir uns orientiert – mit Unterstützung anderer Menschen, die ihn ebenfalls gut kannten.
Kreativität zu später Stunde: Udo Jürgens war "ein Nachtmensch"
Wie liefen diese Gespräche damals ab?
John Jürgens: Die besten Ideen hatte Udo in der Nacht. Er war definitiv ein Nachtmensch und der Meinung, dass die Dinge am Abend beziehungsweise in der Nacht passieren. Schließlich geht man abends in ein Konzert oder ins Kino. Dementsprechend setzte auch seine Kreativität erst am Abend ein. Manchmal spielte er uns sogar um 2 Uhr nachts etwas vor – und anschließend sprachen wir darüber. Ich glaube, dass er mit "udo 90" sehr zufrieden gewesen wäre, denn viele dieser Lieder vermitteln genau das, was ihm wichtig war: eine klare Botschaft. Dafür stehen Songs wie "Ich bin dafür", "Lieb Vaterland" oder "5 Minuten vor 12".
Jenny Jürgens: Er hatte die Begabung, den Finger in die Wunde zu legen, ohne dabei den Menschen mit der Brechstange eins überzuziehen. Diesen schmalen Grat, also eine Botschaft mit einer gewissen Leichtigkeit zu kombinieren, hat er zeitlebens gut gemeistert.
Wer hat den zuvor unveröffentlichten Udo-Jürgens-Song "Als ich fortging" gefunden?
John Jürgens: Grundsätzlich war der Song ja schon da. Das Team der Plattenfirma hatte den Soundfile entdeckt und uns zum Anhören vorgelegt. Wir alle hatten Tränen in den Augen und waren glücklich, einen so besonderen Titel gefunden zu haben, von dem es bis dato lediglich ein Demo gegeben hatte. Wir waren uns sofort einig, dass die Menschen dieses Lied hören sollten.
Jenny Jürgens: Im Grunde genommen war genau das ein großer Wunsch – wenn auch ein nicht kommunizierter. Einen besonderen Song von Udo zu finden, der zuvor noch nie veröffentlicht wurde: Von so etwas träumt man.
John Jürgens: "Als ich fortging" war ursprünglich für das Album "Treibjagd" (1985) gedacht. Der Song hat damals aber thematisch, also im musikalischen Sinne, nicht darauf gepasst. Und geriet daher schlicht und einfach in Vergessenheit.
Wie die KI bei einem bisher unveröffentlichten Udo-Jürgens-Song half
Wie groß war der technische Aufwand, aus dem vorhandenen Demo einen Song zu machen, der sich für eine Veröffentlichung eignet?
John Jürgens: Dieses Demo war wirklich erstaunlich gut. Udo hat den Song damals so eingesungen, als ob es um sein Leben gegangen wäre. Genauso hat er den Titel auch produzieren lassen. Die Stimme war immer weit vorne, was bedeutet, dass man seinen Gesang gut verstehen konnte. Das hat es uns letztlich technisch leichter gemacht, die Stimme von der Musik zu trennen. Bei diesem Prozess haben wir die KI zurückgegriffen. Schließlich hatten wir ja nur einen WAV-File vorliegen. Nach der Trennung hörst du dann ein "A cappella" – und das war in diesem Fall so blitzsauber, wie ich es selten gehört habe.
Haben Sie mittlerweile alle Diktiergeräte und Kassetten Ihres Vaters gesichtet oder könnte da noch mehr kommen?
John Jürgens: Ich glaube nicht, dass da noch mehr kommen wird. Tatsächlich waren es Hunderte von Kassetten, die ich mittlerweile alle digitalisiert und mir angehört habe.
Zu Zeiten von Udo Jürgens war es auf Erden laut einem seiner Songs "5 Minuten vor 12". Jetzt ist er für viele bereits "5 Minuten nach 12". Hätte er heute, würde er noch leben, auf seine musikalischen Botschaften verwiesen – nach dem Motto "Freunde, ich hab's euch doch gesagt!"?
Jenny Jürgens: Zunächst einmal war die Welt auch damals schon schlecht. Und ganz sicher hätte er niemals mit Sätzen wie "Ich hab's euch doch gesagt!" reagiert. Das hat er im Übrigen auch bei mir nicht gemacht, als damals meine erste große Liebe zu Ende gegangen ist. Diesen Spruch hat er sich verkniffen, was ich ihm sehr hoch angerechnet habe – zumal er natürlich gewusst hat, dass genau das passieren würde. Vielmehr würde er heute seinen Finger, so wie er es immer schon getan hat, zart in die Wunden legen.
John Jürgens über seinen verstorbenen Vater: "Die AfD hätte er nie beim Namen genannt"
Auch bei Themen wie dem Krieg in der Ukraine oder
Jenny Jürgens: Wie soll man Donald Trump ernsthaft in ein Lied packen? Diesen Mann kann man höchstens auf satirische Art und Weise thematisieren. Aber wir können das Udo jetzt natürlich nicht einfach so in den Mund legen.
John Jürgens: Da gebe ich dir absolut recht. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass er Trump diese Plattform nicht gegeben hätte. Vermutlich hätte er generell angeprangert, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Auch eine Partei wie die AfD hätte er nie beim Namen genannt. Aber über den Zustand, dass diese Partei angeblich eine Alternative für Deutschland sein soll, hätte er ganz bestimmt schwer diskutiert – sowohl in TV-Sendungen als auch in seinen Liedern.
Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf dieses Jahr, in dem Ihr Vater 90 geworden wäre und in dem sich sein Todestag zum zehnten Mal jährt? Ist der anfängliche Schmerz der Dankbarkeit gewichen?
Jenny Jürgens: In den vergangenen zehn Jahren habe ich gelernt, dass sich Traurigkeit nicht an Daten wie Geburtstagen oder Todestagen festmachen lässt. Sie kommt ganz ungefragt in verschiedenen Momenten um die Ecke. Natürlich bin ich zehn Jahre danach nicht mehr in permanenter Trauer versunken. Dankbarkeit ist sicher ein großes und wichtiges Wort. Wir haben unseren Vater noch einmal ganz neu kennenlernen dürfen, indem wir uns mit seinem Werk und seinen Gedanken beschäftigt haben. Ich fühle mich ihm unheimlich nah. Je älter man selber wird, desto größer wird das Verständnis, das man als jüngerer Mensch vielleicht nicht immer hatte. Was aber immer bestehen bleibt, ist die Liebe.
John Jürgens: Man trägt den Vater immer in seinem Herzen. Bei mir kommt die Trauer insbesondere in den Momenten zum Vorschein, wenn ich mich mit seiner Musik beschäftige. Dann verdrückt man auch mal die eine oder andere Träne – zum Beispiel, wenn ich den Song "Der gekaufte Drache" höre. Das zuzulassen, ist so wichtig für die Verarbeitung. Das Wichtigste jedoch ist, dass wir ihn ganz nah bei uns spüren – und wir sind bei ihm. So ist der Lauf der Zeit. Uns geht es nicht anders als anderen Kindern, deren Eltern nicht mehr leben. Der einzige Unterschied liegt darin, dass unser Vater prominent war.
Über die Gesprächspartner
- Jenny Jürgens ist eine deutsche Schauspielerin, Sängerin und Moderatorin. In jungen Jahren sang sie an der Seite ihres Vaters Udo Jürgens das Duett "Liebe ohne Leiden". Als Schauspielerin war die Münchnerin unter anderem in der Serie "Mallorca – Suche nach dem Paradies". Später übernahm sie Hauptrollen in den Telenovelas "Lena – Liebe meines Lebens" und "Rote Rosen". Jürgens lebt mittlerweile in Sóller auf Mallorca.
- John Jürgens ist ein deutscher Schauspieler und DJ. Der Sohn des Sängers Udo Jürgens absolvierte eine klassische Schauspiel- und Tanzausbildung, lebte in dieser Zeit unter anderem in New York. Jürgens wirkte in Theaterproduktionen sowie TV-Serien (u.a. "Marienhof") mit und hatte Auftritte in Musiksendungen (u.a. "Zum Blauen Bock"). Als Event-DJ ist der Münchner unter dem Künstlernamen John Munich tätig.
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