Luxushotels, teure Fitnessstunden und am Ende 200.000 Dollar Schulden: Unter dem falschen Namen Anna Delvey führt die Betrügerin Anna Sorokin zehn Monate lang das Leben einer Millionenerbin in New York City. Eines ihrer Opfer: Ihre Freundin Rachel Williams. Diese hat mit "My friend Anna" nun ein Buch über den unglaublichen Betrugsfall geschrieben, der einen regelrechten Medienhype auslöste.

Daria Raegany
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"Die besten Schurken sind immer noch die, die man trotz ihrer Niedertracht einfach gern haben muss." Dies ist einer der ersten Sätze, mit denen Rachel Williams ihren autobiografischen Roman "My friend Anna" einleitet.

Im Juni ist das Buch der ehemaligen "Vanity Fair"-Redakteurin auf dem Markt erschienen. Es handelt von einem der spektakulärsten Betrugsfälle der USA. Seit September ist das Buch auch in Deutschland erhältlich.

Vom Nobody zum It-Girl

Im Mittelpunkt der Geschichte: Anna Sorokin, selbsternannte Millionärstochter aus Deutschland, Trickbetrügerin und ihres Zeichens aufstrebendes It-Girl.

Unter dem falschem Namen Anna Delvey macht sie zwischen 2016 und 2017 die angesagten Restaurants und Bars New Yorks unsicher. Sie lebt in noblen Hotels, kleidet sich in Designermode und umgibt sich mit der High Society der Stadt.

In dieser Zeit lernt sie Rachel Williams kennen. Sie freunden sich an. Gemeinsame Nagelstudiobesuche und Clubnächte folgen. Anna bezahlt oft, bis eines Tages auf einem Urlaub in Marokko ihre Kreditkarte nicht mehr funktioniert. Rachel übernimmt die Kosten – insgesamt 62.000 Dollar – und bleibt darauf sitzen. In den folgenden Monaten hilft sie der New Yorker Staatsanwaltschaft dabei, ihre ehemalige Freundin auffliegen zu lassen.

200.000 Dollar Schulden hat diese innerhalb von zehn Monaten angehäuft. Den Hauptteil des Geldes schuldet sie Banken und Hotels. Bei den Betrugsfällen geht es hauptsächlich um nie zurückgezahltes Geld oder Summen, die sie zwar zurückgezahlt hatte, aber mit Geld, das ihr nicht gehörte.

Der Prozess, der Ende März 2019 beginnt und in einer Haftstrafe für Anna Sorokin mündet, sorgt für internationales Aufsehen. Sorokin und ihr Anwalt Todd Spodek machen aus den Auftritten vor Gericht eine Show. An jedem Prozesstag erscheint die 28-Jährige in einem neuen Designerfummel. Zeitweise weigert sie sich sogar, den Gerichtssaal zu betreten, weil ihr ein Outfit nicht gefällt.

Der Niedergang einer New Yorker Freundschaft

"My friend Anna" setzt weit vor dem Prozess an zu einer Zeit, als Sorokins Masche noch nicht aufgeflogen war. Das Buch, im Stile einer Autobiographie aus der Sicht von Williams geschrieben, erzählt vom Beginn und dem Niedergang der Freundschaft zweier junger Frauen. Es geht um Selbstdarstellung und Täuschung – und vor allem um die Autorin selbst.

Natürlich kommt man bei einer Autobiografie nicht umhin, etwas über die Schriftstellerin selbst zu erfahren, auch wenn es sich bei ihr nicht um die Hauptperson des Buches handelt. Nur sollte man sich als Leser dieser Geschichte immer wieder in Erinnerung rufen: Dies ist keine parteilose Erzählerin. Natürlich liegt es in ihrem eigenen Interesse, am Ende der Geschichte gut dazustehen.

So finden sich zwar während des gesamten Buches immer wieder Stellen, an denen die Autorin versucht, Verständnis für ihre damalige Freundin aufzubringen. Im Nachhinein muten diese Versuche jedoch eher als bewusste Unterstreichung ihrer eigenen objektiven Einschätzung der Situation an.

Der Leser befindet sich im Zwiespalt: Einerseits handelt es sich bei Rachel Williams um das Opfer eines Betrugs. Dennoch scheinen ihre Ausflüchte, wie sie in diese Situation kommen konnte, fadenscheinig. Anstatt sich ihren Teil der Verantwortung einzugestehen, sucht sie in Anna ihren Sündenbock.

Vom Leben in der Großstadt und einer reichen Göre

Neben der Autorin selbst und ihrem Leben in der Großstadt gibt es zwei weitere Fokuspunkte in der Geschichte: Die Stadt New York, ihre Nobelrestaurants, die hippen Szenelokale und Kunstausstellungen. Und natürlich die Person, aufgrund derer sich der Leser wohl das Buch gekauft hat: Anna.

Sie wird von Williams als junge Frau mit "engelhaftem Gesicht", "auffallend großen blauen Augen" und "einem Schmollmund" beschrieben. Detailgenau beschreibt die Protagonistin jedes von Annas Outfits. So trug sie bei ihrem Kennenlernen etwa "ein enganliegendes schwarzes Kleid und flache schwarze Gucci-Sandalen mit goldenen, Bambus-inspirierten Akzenten an den Knöcheln".

In vielen Situationen erscheint Anna durch die Augen der Autorin als gefühlskalt, egozentrisch, materialistisch und görenhaft – Eigenschaften, so Williams, die plausibel für die Tochter eines Millionärs erscheinen. Aber auch Eigenschaften, die man an einer Freundin wertschätzt?

Williams‘ Erklärungsversuche, warum sie sich trotz Annas scheinbar abstoßenden Charakters so lange Zeit trotzdem mit ihr umgab, fallen unbefriedigend aus: "Mit ihr war die Welt wie verzaubert, normale Regeln schienen nicht mehr zu gelten. Ihr Lifestyle war geprägt von lauter Annehmlichkeiten, und ihr unbeschwerter Materialismus war verführerisch."

"Sex and the City" ohne Sex und mit viel City

Insgesamt erinnert ein Großteil des Buches stimmungstechnisch und sprachlich an eine sorglose Folge "Sex and the City" – ohne den Sex, dafür mit umso mehr City. Nach und nach stellt sich dem Leser die Frage, ob die Autorin nicht bereits vor ihrem Kennenlernen mit Anna für eine einfache Bildredakteurin nicht deutlich über ihren Verhältnissen lebte.

Dennoch ist "My friend Anna" ein kurzweiliges, unterhaltsames Buch. Es beschreibt die Entstehung und den Niedergang einer New Yorker Freundschaft, dokumentiert die Selbstdarstellungssucht einer Generation, die von Äußerlichkeiten besessen scheint und öffnet vor allem Schaulustigen des Prozesses um Anna Sorokin noch einmal einen privaten Blick auf ihre Person. So ist der Roman zwar kein objektiver Bericht des Falls, aber allemal ein Goodie für Sensationslustige und – wenn vielleicht auch nicht beabsichtigt – eine Hommage an die Betrügerin selbst.

Trotz ihrer negativen Zeichnung von Annas Figur schafft es Williams nicht, sie jeglicher Sympathie zu berauben und beweist damit unfreiwillig, dass sie selbst wohl mehr mit der ehemaligen Freundin verbindet, als ihr lieb ist. Oder um es mit dem Schlussplädoyer von Annas Anwalt im Gerichtsprozess zusammenzufassen: "Ein bisschen Anna steckt in jedem von uns."

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