Früher war Bützenich ein glückliches Örtchen. Es gab einen engagierten Ortsvorsteher und einen netten Pfarrer, der in einer schönen alten Kirche predigte. Die Küsterin führte die Dorfschenke mit Gästezimmern. Vom örtlichen Arzt fühlten sich alle gut versorgt. Und der Vierkanthof, seit drei Generationen im Besitz derselben Familie, vervollständigte dieses Bullerbü-Bild von Heimat.
Dann kamen die Schaufelbagger des Tagebaus und mit ihnen die Angebote des Energiekonzerns. Alle Bewohner kämpften, manche blieben, viele gaben auf und nahmen das Angebot an, ihr altes Leben in neuen Häusern weiterzuführen. Als ob das so einfach wäre. Jetzt gibt es ein Alt-Bützenich und ein Neu-Bützenich. Der ehemalige Ortsvorsteher ist ein verzweifelter Witwer, der Pfarrer fort, das Gasthaus geschlossen. Und der Arzt liegt erschossen in seinem alten Haus.
Natürlich denkt man sofort an das Braunkohlerevier Garzweiler, an Lützerath und die Bilder in den Nachrichten. Aber "Abbruchkante" richtet seinen Blick nicht auf Klimaaktivisten, Straßenblockaden und Großeinsätze der Polizei. Dieser grandiose "Tatort" von Regisseur Torsten C. Fischer nach einem Drehbuch von Eva und Volker A. Zahn ist weniger Politfilm, sondern erzählt sein hochaktuelles Thema als Geschichte von Entwurzelung, von der Zerstörung von Heimat und Identität.
Mit viel Liebe zum Detail erzählt er davon, was passiert, wenn mit der Erde auch individuelle Seelen aufgewühlt werden und das kollektive Gedächtnis einer Dorfgemeinschaft im Baggerloch verschwindet. So zeigen die ersten Bilder von "Abbruchkante" ein sympathisches altes Ehepaar, das in seinem neuen Haus tanzt. Es ist ein Abschiedstanz. Hier wollen sie nicht leben. Im Champagner haben sie Schlaftabletten aufgelöst.
Dieser Tatort ist eine melancholische Gespenstergeschichte
Und als der Vorspann dieses "Tatorts" beginnt, sind die Namen, die über den Bildschirm flimmern, nicht die der Darsteller. Es sind die der handelnden Figuren. Denn von diesen Menschen wird "Abbruchkante" erzählen. Und von dem, was sie verloren haben.
Denn jetzt gibt es zwar Alt-Bützenich mit seinen verrammelten Backsteingebäuden und Neu-Bützenich mit seinen blendend weißen Reißbretthäusern. Aber es gibt kein Bützenich mehr. Ob-wohl die Klimawende den Tagebauplänen einen Strich durch die Rechnung gemacht hat und die alten Häuser doch erhalten blieben.
"Abbruchkante" ist eine melancholische Gespenstergeschichte. Die beiden Orte, in denen die Kommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) den Mord an Doktor Franzen (Leopold von Verschuer) aufzuklären versuchen, sind Geisterdörfer. Das eine hat seine Seele verloren, das andere hat noch keine.
Und dazwischen wandeln die Geister, die keine Ruhe finden. Zum Beispiel Peter Schnitzler (Peter Franke), der ehemalige Ortsvorsteher. Eigentlich wollten der Rentner und seine geliebte Frau sich gemeinsam umbringen. Er, weil er den Umzug nach Neu-Bützenich nicht verkraftete, und seine Frau, weil sie darauf bestand, ihm überall hin zu folgen. Ihr Enkel fand sie, Peter Schnitzler überlebte den Selbstmordversuch, für seine Frau kam Doktor Franzen zu spät. Seitdem fährt Peter Schnitzler mit dem Rad zwischen dem verhassten neuen und seinem toten alten Haus und hin und her. Sitzt im Sessel wie früher und sieht seine Frau im Garten das Gemüse ernten. Ruhelose Geister wie er werden selbst von Gespenstern verfolgt.
"Abbruchkante" schafft eine wunderbare Atmosphäre
Das gilt ebenso für den Hofbesitzer Konrad Baumann (Jörn Hentschel). Seine Tochter gehörte zu den Aktivistinnen, die gegen den Abbruch des Dorfes kämpften und kam bei einer Protestaktion ums Leben. Seitdem leidet er an Depressionen und huscht wortkarg an den Kommissaren vorbei, während seine patente Frau (Daniela Wutte) den Hof am Leben zu erhalten versucht.
"Abruchkante" schafft eine wunderbare Atmosphäre des Unheimlichen (Kamera: Theo Bierkens), die sich nicht einfach auf die Morbidität der verlassenen Gebäude verlässt, sondern zu der auch die seltsam agierenden Dorfbewohner beitragen. Da hat sogar Arztwitwe Betje Franzen (Lou Strenger) am helllichten Tag in ihrer helllichten Villa etwas von einem Geist, auch wenn sie ihren Schmerz mit ziemlich viel weltlichem Rotwein zu betäuben versucht.
Einzig Gastwirtin Karin Bongartz (Barbara Nüsse), bei der die Kommissare Unterkunft finden, bringt eine Art von Zuversicht in die Geschichte. Mit ihrer direkten Art wird sie zum Lebenselixier für Kommissar Ballauf, an dem das Gefühl der Unwiederbringlichkeit dieses seltsamen Ortes nicht spurlos vorübergeht.
"Abbruchkante" schafft es, mit wenigen Strichen ganze Lebensgeschichten zu skizzieren. Deren Risse und Brüche werden von der verwundeten Landschaft gespiegelt, und der Mord erscheint als verzweifelter, wenn auch vergeblicher Heilungsversuch. Und seine Auflösung ist der konsequente Höhepunkt dieses herausragenden "Tatort".
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