Hochbrisante Schilderungen in den Tagebüchern von Grigori Rodschenkow setzen das Internationale Olympische Komitee in der Doping-Affäre um Russland weiter unter Druck. Die "New York Times" ist in den Besitz der geheimen Aufzeichnungen des Kronzeugen gekommen. Und die haben es in sich.
Grigori Rodschenkow lässt nichts unversucht, um seine Glaubwürdigkeit unter Beweis zu stellen.
Seit Monaten verrät der ehemalige Leiter des Moskauer Anti-Doping-Labors über seinen Anwalt als Kronzeuge Details zum Staats-Doping in Russland.
Seine Ausführungen kosteten bereits Langläufer Alexander Legkow unlängst nachträglich die Goldmedaille, die dieser bei den Olympischen Spielen in Sotschi gewonnen hatte.
"New York Times" veröffentlicht Tagebuch-Auszüge
Weitere 22 Wintersportler wurden seitens des IOC gesperrt. Es wird mit weiteren Sperren gerechnet. Bislang hatte Russland eine staatliche Beteiligung am Doping stets abgestritten.
Nun präsentierte die "New York Times" exklusive Auszüge aus Rodschenkows handschriftlich verfasstem Tagebuch. Und diese Auszüge haben es in sich.
Die beiden Notizbücher, vom Internationalen Olympischen Komitee als glaubhaft eingestuft, stammen aus den Jahren 2014 und 2015 und belegen recht detailliert die Verstrickung russischer Regierungsmitglieder und hoher Olympia-Funktionäre in das weit verzweigte Doping-System.
Darunter befinden sich Witali Mutko, der ehemalige russische Sportminister, jetzige Vize-Premier und ganz nebenbei auch noch OK-Chef der Fußball-WM 2018 in Russland.
Neben Mutko wird auch Irina Rodionova schwer belastet. Sie gehört dem Direktorium des "Sport-Zentrums zur Vorbereitung des russischen National-Teams" an.
Rodschenkows Statements sind für die Ermittler äußerst wertvoll. Als promovierter Chemiker hat er jahrzehntelang mit Doping-Substanzen experimentiert und als Leiter des russischen Anti-Doping-Labors jahrelang russischen Sportlern geholfen, ihre Leistung mithilfe dieser Substanzen zu steigern.
Steroide mit Wermut und Martini
Rodschenkow notierte kurz vor dem Beginn der Spiele 2014 in Sotschi in sein Tagebuch, dass er Mutko eine Liste mit Dutzenden russischer Sportler überreicht habe, die einen eigens für Sotschi entwickelten Doping-Cocktail erhalten hatten, den er an sich selbst erfolgreich getestet habe.
Dieser Cocktail, "Duchess" (Herzogin) genannt, bestand aus drei verschiedenen Anabolika-Steroiden, gemixt mit Wermut und Martini.
Es gilt als sicher, dass dieser hochprozentige Drogen-Cocktail aus Rodschenkows Doping-Küche über Irina Rodionowa und ihren Assistenten an die Trainer und Athleten in Sotschi verteilt worden war.
Kriminaltechnische Untersuchungen im Auftrag des IOC legen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nahe, dass Sportler-Urin mit Rückständen dieser Dopingsubstanzen gegen sauberen Urin ausgetauscht worden war.
Neben so profanen Dingen wie der Freude über sein neues Handy oder Ärger über das schlechte Kantinenessen äußerte Rodschenkow in seinen Notizen auch den Unmut, dass die Offiziellen um Mutko den Transport dieser sauberen Urinproben zwischen Moskau und Sotschi wenig professionell organisiert hatten.
Urin in Gläsern von Babynahrung
Hunderte Proben sauberen Urins der Topathleten seien, so Rodschenkow, über Monate in alten Babynahrungs-Gläsern und Wasserfläschchen gehortet worden.
Es gebe keine genaue Verständigung über den so genannten "Sotschi-Plan", es sei ein Albtraum, notiert Rodschenkow am 29. Januar 2014 in sein Tagebuch, nachdem zwei russische Top-Biathletinnen mit positiven Tests aufgeflogen waren.
"Mutko dreht durch, die Dinge geraten außer Kontrolle und sind chaotisch", so Rodschenkow. Am 1. Februar schreibt er, er sei außer sich vor Wut, weil die Urinproben, die in einem Hotel neben dem Labor lagerten, weder alphabetisch noch nach Sportart sortiert worden waren. "Nichts ist fertig", notierte er genervt, "ich musste eigens eine Inventur anfertigen...".
Rodschenkow, den die russische Justiz per Haftbefehl sucht, lebt inzwischen an einem unbekannten Ort in den USA unter dem Schutz des FBI.
Es könnte sein, dass seine jüngsten Enthüllungen zum Ausschluss Russlands von den Spielen in Pyeongchang (9. bis 25. Februar) führen. Allerdings warnen führende Funktionäre ungeachtet der Beweislage vor genau diesem Schritt.
"Wir haben sogar zusätzliche, gezielte Kontrollen bei den Russen gemacht. Da gab es keine positiven Fälle. Aus diesem Grund würde ich es nicht richtig finden, das russische Team bei Olympia komplett auszuschließen", sagte Rodel-Weltverbands-Chef Josef Fendt der "Sport Bild".
Curlingverbands-Präsidentin Kate Caithness sagte: "Ich möchte nicht sehen, dass saubere Athleten, egal welcher Nationalität, bestraft werden, wenn sie nichts Falsches getan haben."
Strafe für Russland? Moskau droht
Am 5. Dezember will IOC-Präsident Thomas Bach gemeinsam mit der IOC-Exekutive entscheiden, welche Konsequenzen aus den vorliegenden Erkenntnissen gezogen werden müssen. Eine empfindliche Sanktionierung gilt als sehr wahrscheinlich.
Sollte es zu keinem Vollausschluss kommen, wird alternativ über ein Verbot nationaler Symbole spekuliert, also keine russische Flagge während der Spiele und keine Nationalhymne; die russischen Sportler müssten in neutralen Anzügen antreten.
Man behalte sich für diesen Fall Gegenmaßnahmen vor, heißt es prompt aus Moskau. So erwäge man einen eigenen Boykott der Olympischen Spiele 2018.
Rodschenkows Enthüllungen gehen längst über den Wintersport hinaus. So steht seit kurzem auch der russische Profi-Fußball unter Doping-Verdacht.
Der englischen Zeitung "Daily Mail" sagte Rodschenkows Anwalt Walden, dass 34 russische Profi-Fußballer, darunter zahlreiche Nationalspieler, ein staatliches Doping-Programm durchlaufen hätten.
Sollte hier weiteres Licht ins Dunkel kommen, wäre das zweifellos kein gutes Omen für die Fußball-WM 2018 in Russland.
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