Am Samstag beginnt die diesjährige Tour de France. Im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt Ex-Rad-Profi Jens Voigt, was er den deutschen Fahrern zutraut und welche zwei Dinge ihm im Vorfeld aufgefallen sind. Außerdem nennt er seinen Topfavoriten auf den Tour-Triumph.
Herr Voigt, wie groß ist Ihre Vorfreude auf die Tour de France 2023?
Jens Voigt: Riesig, wie immer. Da hat sich nichts verändert, selbst jetzt, wo ich mich im "Rad-Ruhestand" befinde. Ich werde eine Menge Spaß haben und erwarte auch, dass es eine spannende Tour wird.
Was macht für Sie den besonderen Reiz sowie die Popularität der Tour de France aus?
Als aktiver Fahrer weißt du, dass die Tour de France das größte Rennen deines Sports ist, vergleichbar mit dem Super Bowl in der NFL oder dem Champions-League-Finale. Jeder möchte dort dabei sein. Außerdem beeindrucken die Dimensionen: 176 Fahrer sowie in etwa 3.500 Menschen, die täglich unterwegs sind, um das Rennen sicherstellen zu können. Es ist ein unfassbar riesiges Event, das nicht nur die Zuschauer am Straßenrand begeistert. Die Tour wird in über 100 Länder übertragen und versammelt dabei Zuschauende jeglicher Art. Meine Mutter hat die Etappen zu meiner aktiven Zeit natürlich verfolgt, aber inzwischen schaut sie immer noch, weil sie sich gerne über die Landschaft sowie die kulinarischen Highlights informieren lässt. Die Tour hat immer noch etwas Magisches.
Wie bewerten Sie die diesjährige Etappengestaltung und worauf kommt es dabei aus Ihrer Sicht an?
Für mich sind zwei Dinge besonders auffallend. Zum einen gibt es nur ein Zeitfahren in den kompletten drei Wochen, welches zudem mit knapp 22 Kilometern noch extrem kurz ist. Dadurch werden im Klassement eher die Bergfahrer bevorzugt. Zum anderen gibt es in diesem Jahr keinen "Flow". Früher gab es die erste Woche zum Einrollen, bevor die ersten Bergetappen auf dem Programm standen, in diesem Jahr geht es gleich am zweiten Tag zur Sache in den Bergen. Dies liegt auch daran, dass in der diesjährigen Tour-Auflage alle Bergregionen Frankreichs durchfahren werden, während es in der Vergangenheit oftmals nur zwei oder drei waren.
Voigt über Tour de France 2023: "Jeden Tag höchste Konzentration verlangt"
Was bedeutet dies für die Fahrer?
Jeder, der im Klassement vorne dabei sein möchte, hat eine sehr stressige und aufreibende Tour vor sich. Es wird jeden Tag höchste Konzentration verlangt werden. Sollte ein Fahrer angeschlagen sein, hat er kaum Zeit, um sich während der Tour zu erholen.
Sind all diese Faktoren noch menschlich oder wird den Fahrern mit dieser Etappengestaltung zu viel abverlangt?
Es handelt sich hier um die Tour de France, niemand hat gesagt, dass ein Sieg dort leicht zu erreichen wird. Keiner wird gezwungen, mitzufahren. Die Fahrer wissen, worauf sie sich einlassen. Außerdem muss man den Veranstaltern zugutehalten, dass die Gesamtlänge in diesem Jahr mit 3.400 Kilometern im unteren Bereich liegt. Die Bergetappen sind relativ kurz, wodurch die Fahrer dann nach fünf Stunden im Ziel sind. Aber natürlich ist diese Auflage mit ihren Etappen in jedem Fall sportlich.
Mit all diesen Informationen im Hinterkopf, wer ist der Topfavorit auf den Tour-Sieg in diesem Jahr?
Für mich ist dies ganz klar Tadej Pogacar. Sein Sturz im Frühjahr in Belgien könnte am Ende eine Art "Glücksfall" für ihn werden. Er war dadurch gezwungen, eine richtige Pause zu machen, und so konnte sich sein ganzer Körper erholen. Natürlich hat er dadurch weniger Rennkilometer in den Beinen, aber ich glaube, dass in ihm noch immer der Frust über seinen zweiten Platz im vergangenen Jahr sitzt. In seinem Team hat er mit Adam Yates einen Fahrer dazubekommen, der ihn auch noch am letzten Berg unterstützen kann. Dort war er in der Vergangenheit oft auf sich alleine gestellt. Sein ärgster Rivale wird wieder Jonas Vingegaard sein, der sich in Topform befindet und die stärkste Mannschaft an seiner Seite weiß. Aber ich glaube, im Duell Mann gegen Mann ist Pogacar der stärkere Fahrer.
Voigt über deutsche Chancen bei der Tour: "Braucht Husarenritte"
Wie stehen aus Ihrer Sicht die Chancen auf deutsche Ausrufezeichen bei der diesjährigen Tour?
Aus Deutschland ist kein Top-Sprinter, wie früher Andre Greipel oder Marcel Kittel, dabei. Die waren quasi eine Garantie für Etappensiege, was nun fehlt. Es braucht also Husarenritte. Nils Politt hat bereits gezeigt, dass er dazu in der Lage ist. Auch Georg Zimmermann hat zuletzt seine gute Form unter Beweis gestellt. Es kann sein, dass deutsche Fahrer Etappen gewinnen, aber es kann auch passieren, dass keiner der Deutschen am Ende ganz oben steht. Alle Fahrer aus Deutschland sind in der Lage, eine Etappe zu gewinnen, aber es müssen sich auch die Umstände dafür fügen. Zum Beispiel: Wie sieht die Fluchtgruppe aus? Was macht das Hauptfeld? Ich denke, wir werden mindestens einen deutschen Etappensieg sehen. Mit Emanuel Buchmann haben wir einen Fahrer, der bei den ganz schweren Bergetappen vorne mitfahren kann und dies bereits in der Vergangenheit mehrfach unter Beweis gestellt hat.
Woran liegt es, dass derzeit keine deutschen Klassementfahrer bei der Tour de France am Start sind?
Zunächst einmal glaube ich, dass den deutschen Fahrern helfen würde, in einer hochklassigen ausländischen Mannschaft zu fahren, um dort von den Besten lernen zu können. Aber das grundsätzliche Problem liegt in der Nachwuchsarbeit. Es ist sehr schwierig, Rennen zu organisieren. Nicht nur finanziell, sondern es braucht auch Absperrungen, Helfer, Verpflegung et cetera. Also gibt es im Nachwuchsbereich vor allem Rennen in Industriegebieten am Wochenende, die aufgrund ihrer Rundencharakteristik leichter durchzuführen sind. Diese Rennen werden in 99,9 Prozent aller Fälle von einem Sprinter-Typ gewonnen, während Bergfahrer und damit auch potenzielle Toursieger dort maximal nur die Top 20 erreichen. Es gibt in Deutschland zu wenig Rennen im Nachwuchsbereich für diese Art von Fahrern, wodurch diese frühzeitig ausselektiert werden im Kinder- und Jugendbereich. Außerdem fehlt heutzutage, vor allem aufgrund der Vielzahl von Möglichkeiten und Angeboten, wohl auch etwas der Biss beim Radsport-Nachwuchs. Denn es ist schlichtweg auch eine Menge Arbeit von Kindesbeinen an erforderlich, um ein potenzieller Toursieger zu werden.
Lehren aus Tod von Gino Mäder: "Regeln müssen umgesetzt werden"
Der Radsport stand zuletzt vor allem in den Schlagzeilen durch den tragischen Tod von Gino Mäder. Welche Lehren sollte man daraus ziehen?
Die vorgegebenen Regeln für Fahrer und Organisation sollten normalerweise ausreichen, dass es nicht zu solchen tragischen Unglücken kommt. Sie müssen aber umgesetzt werden. Teilweise wird erst reagiert, wenn etwas Schlimmes passiert. Die Fahrervereinigung CPA hat in einer Umfrage außerdem ermittelt, dass zukünftig kein Ziel mehr direkt am Ende einer Abfahrt sein soll. Denn dadurch entsteht auf den vorhergehenden Kilometern noch mehr Druck, als in einer Fahrt ins Tal ohnehin bereits herrscht. Sind hingegen noch zehn oder zwanzig Kilometer im Flachen zu fahren, wissen die Fahrer, dass sie in der Abfahrt nicht das volle Risiko fahren müssen. Ansonsten hilft vor allem gesunder Menschenverstand bei den Organisatoren und beim Weltverband UCI.
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Was ist Ihr persönlicher Wunsch für die Tour in diesem Jahr?
Das ist eine tolle Frage, darüber habe noch gar nicht wirklich nachgedacht. Das Offensichtliche ist natürlich, dass alle Fahrer gut durchkommen sollen. Wenn es Stürze gibt, sollen die nicht so schlimm sein. Außerdem soll der Beste gewinnen und nicht derjenige, der Glück bei einem Sturz hatte oder ohne Defekt durchgekommen ist. Ich selber habe hoffentlich eine Menge Spaß als Co-Kommentator bei Eurosport sowie als Interviewer auf dem Motorrad in der zweiten Tourwoche.
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