Deutschlands komplett verpatzter WM-Auftakt gegen Mexiko hatte sich leise angedeutet. Die Mannschaft und Joachim Löw haben die Signale aber geflissentlich übersehen. Der Bundestrainer benötigt jetzt einen schnellen Paradigmenwechsel.

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Einen Fehler zu machen, so sagt man, ist gar kein Problem. Schwierig wird es erst, wenn man denselben Fehler mehrere Male begeht. Dann entsteht ein Zustand der Unordnung und irgendwann eine echte Misere.

So weit ist es bei der deutschen Nationalmannschaft noch lange nicht. Sie hat ein Spiel verloren, zwei weitere stehen in der Vorrunde noch aus. Die Qualifikation für das Achtelfinale als Zweitplatzierter ist ebenso noch möglich wie der Sieg in Gruppe F.

Allerdings: Mit einer Leistung wie der gegen Mexiko wird der Wettbewerb für Titelverteidiger Deutschland nach der Vorrunde beendet sein.

Die Aufarbeitung des 0:1 wird auf allen Ebenen aufwendig werden in den kommenden Tagen - und nicht an allen Stellschrauben wird Joachim Löw drehen können.

Der Bundestrainer hatte nach einer holprigen Vorbereitung in aller Ruhe darauf verwiesen, dass diese Mannschaft, wie eigentlich immer, zum ersten Spiel des Turniers auf den Punkt fit sein werde. Dass sie liefern werde, wie man das von ihr gewohnt ist und von einer Mannschaft mit dieser individuellen Qualität auch erwarten darf.

Löws Zuversicht beruhte unter anderem auf den Leistungsträgern von 2014. Gegen Mexiko standen acht Weltmeister in der Startelf, lediglich die WM-Debütanten Joshua Kimmich, Marvin Plattenhardt und Timo Werner waren neu.

Deutschland wähnte sich überlegen, weil ja genug Spieler der alten Garde dabei waren und Mexiko im letzten Jahr beim Confed Cup mit 4:1 vom Platz gejagt wurde - mit einer besseren B-Elf. Die richtigen Lehren aus dieser Partie damals zogen aber nicht die Deutschen, sondern die Mexikaner. Seit einem halben Jahr seien die Pläne für das Eröffnungsspiel geschmiedet worden, sagte Mexikos Trainer Juan Carlos Osorio.

Hat Löw zu spät reagiert?

Deutschland erwartete den Gegner mit einem aggressiven Angriffspressing, "Chaos" würde Mexiko veranstalten wollen, um die deutsche Ordnung ins Wanken zu bringen. Deshalb vertraute Löw der gestandenen Doppel-Sechs aus Sami Khedira und Toni Kroos, die listig Wege aus diesem Chaos finden und dann den Gegner in dessen Abwehrreihe entblößt erwischen sollten.

Mexiko hatte aber einen völlig anderen Matchplan - ließ die Deutschen in Ruhe anrennen, nahm Kroos in Manndeckung, Khedira wurde übergeben, die hohe Positionierung von Kimmich wurde als Angriffspunkt für eigene Konter gesehen.

So kontrollierte Mexiko sogar das Spiel, wenn es gar nicht in Ballbesitz war, und überrannte die deutsche Mannschaft mit seinen Kontern in der ersten Halbzeit förmlich.

Das war schon erstaunlich genug - kurios wurde es aber, als die deutsche Gegenreaktion darauf eine Stunde lang ausblieb. Löw schaute dem Treiben sehr lange sehr stoisch zu, das In-Game-Coaching fand allenfalls peripher statt. Grundlegende personelle wie systematische Veränderungen gab es erst tief in der zweiten Halbzeit.

Erst als die Mexikaner gegen Ende der Partie müde wurden, griff das deutsche Positionsspiel einigermaßen, wurde so etwas wie Druck aufgebaut - ohne sich dabei aber zwingende Torchancen zu erarbeiten.

Löw hat sich mit seinem Matchplan und seiner Aufstellung gegen Mexiko verspekuliert, das muss man im Nachhinein klar konstatieren. So etwas kann passieren, dann muss man allerdings auch rechtzeitig die entsprechenden Konsequenzen daraus ziehen. Löw zögerte zu lange damit, seine Einschätzungen zu korrigieren. Damit rückt er wie seine Spieler in den Fokus der Kritik. Dabei waren die Warnsignale zuletzt deutlich zu erkennen.

Nicht alles kann man schnell regeln

Bereits vor Monaten hatten einige seiner Spieler die Arbeitseinstellung mancher Kollegen offen kritisiert. Kroos rüffelte nach der Testspielniederlage gegen Brasilien im Frühjahr die Mentalität einiger junger Mitspieler.

Passiert ist seitdem: nichts. Nach der Pleite gegen Österreich und nach dem blamablen Sieg gegen Saudi-Arabien in den Testspielen blieben die Probleme bestehen: keine Ordnung im Spiel gegen den Ball, kein vernünftiges Gegenpressing, ein lasches Ballbesitzspiel.

Daran kann man arbeiten. Auch in den wenigen Tagen bis zum Spiel gegen die Schweden fallen genügend Trainingseinheiten ab, um diese Dinge zu korrigieren. Dass die Spieler theoretisch in der Lage sind, Weltklasseniveau zu erreichen, dürfte außer Frage stehen.

Nur: In der Praxis kommt diese etwas überalterte Mannschaft daher, als hätte sie schon drei Turnierwochen und vier oder fünf Spiele in den Knochen.

Spieler wie Thomas Müller, Khedira oder Kroos schleppten sich förmlich über den Rasen, waren den aggressiven und spritzigen Mexikanern in den kleinen Duellen komplett unterlegen. Kroos und Khedira brachten das Kunststück fertig, keinen einzigen Ball des Gegners abzufangen. Und das als Sechser.

Und wegen ihrer hohen Staffelung waren sie bei Ballverlusten zu langsam oder zu unkonzentriert, um noch entscheidend eingreifen zu können.

Inhaltlich kann Löw einiges reparieren, an der körperlichen und geistigen Frische wird aber schwer zu arbeiten sein. Und im zwischenmenschlichen Bereich hat sich offenbar nur wenig getan. Die beiden Innenverteidiger Mats Hummels und Jerome Boateng kritisierten mit deutlichen Worten ihre Mitspieler und die Ausrichtung der Mannschaft - was auch ein Signal an den Bundestrainer war.

Der wiederum prangerte Hummels' Abwehrverhalten vor dem entscheidenden Gegentor an. Und so blieben viele Dinge, die zwar irgendwann besprochen, auf dem Platz dann aber nicht umgesetzt wurden.

Es gab genug Indizien

Es knirscht gewaltig. Löw wird sich von seiner Nibelungentreue verabschieden müssen, wenn er das Ruder noch einmal herumreißen will. Mit der alten Garde allein wird es nicht mehr reichen, den nötigen Umbruch im Team - Deutschland stellte gegen Mexiko die älteste WM-Mannschaft seit dem verlorenen Finale von 2002 - hat er noch nicht zugelassen.

Dabei hatten die Leistungen und die Ergebnisse der letzten Monate genügend Indizien dafür geliefert, dass es für das absolute Weltniveau so nicht mehr reichen würde. Aus den letzten sieben Spielen gab es nur einen einzigen Sieg. Gegen die Großen wie England, Frankreich, Spanien und Brasilien war Deutschland spielerisch teilweise klar unterlegen.

Löw hat oft genug das Leistungsprinzip hervorgehoben, dabei war auch gegen Mexiko klar, wie die Startelf aussehen würde. Es gab und gibt keinen echten Konkurrenzkampf im Team, zu viele Spieler haben ihre Posten sicher.

Auch das steht seit einigen Monaten schon mehr oder weniger fest. Warnschüsse gab es genug, so richtig wahrnehmen wollte sie beim DFB aber offenbar niemand.

Vielleicht hat die Art und Weise, wie die Mannschaft gegen Mexiko verloren hat, ja eine reinigende Wirkung. Löw, der die Niederlage unaufgeregt wegmoderierte, wird handwerkliche und personelle Lösungen präsentieren müssen.

Und er wird, wie seine Mannschaft, endlich anfangen müssen, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Ohne Lernprozess keine Verbesserung. Und verbessern muss sich Deutschland in allen Belangen.

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