Die Liste der Spielerinnen, die die Weltmeisterschaft in Australien und Neuseeland aufgrund eines Kreuzbandrisses verpassen werden, ist lang. Stars wie Vivianne Miedema (Niederlande), die Engländerinnen Beth Mead und Leah Williamson oder das französische Sturm-Duo Delphine Cascarino und Marie-Antoinette Katoto mussten die WM-Teilnahme aufgrund der schweren Knieverletzung absagen.

Ein Interview

Beim deutschen Team zog sich Giulia Gwinn im vergangenen Herbst bereits ihren zweiten Kreuzbandriss zu, im letzten Testspiel gegen Sambia (2:3) am Samstag erwischte es mit Carolin Simon eine weitere Abwehrspielerin des FC Bayern München.

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Im Interview mit unserer Redaktion spricht Jutta Bletzer, die Mannschaftsärztin der Frauen der TSG-Hoffenheim, über die Häufung der Kreuzbandrisse im Frauenfußball und das höhere Verletzungsrisiko für Fußballerinnen.

Jutta Bletzer, mehr als 30 Spielerinnen werden wegen eines Kreuzbandrisses die Weltmeisterschaft in Australien und Neuseeland verpassen, der "kicker" zählte mehr als 100 Spielerinnen in den höchsten europäischen Ligen, die sich seit Anfang 2022 einen Kreuzbandriss zugezogen haben. Wie sehr beunruhigen Sie diese Zahlen aus medizinischer Sicht?

Jutta Bletzer: Verletzungen sind immer beunruhigend. Dennoch sind wir im Fußball natürlich immer damit konfrontiert. Wenn man diese Zahlen betrachtet, sind es mehr als 30 Spielerinnen aus 20 Ländern bei insgesamt 32 teilnehmenden Mannschaften. Das ist schon eine Menge. Aber man muss auch sagen, dass sich das wahrscheinlich noch im normalen Rahmen bewegt. Genau sagen lässt sich das allerdings nicht, denn leider gibt es im Frauenfußball erst wenige Daten dazu. Im Männerbereich ist das anders, und da haben die Statistiken der Berufsgenossenschaft VBG gezeigt, dass sich die Verletzungen im Laufe der letzten Jahre reduziert haben. Die VBG arbeitet derzeit daran, solche Daten auch speziell für Fußballerinnen zu erstellen.

Sie sind seit 2013 Mannschaftsärztin bei den Frauen der TSG Hoffenheim. Wie ist ihr persönlicher Eindruck, haben schwere Verletzungen zugenommen?

Nein. Im Schnitt haben wir nicht mehr Verletzungen. Weder im muskulären Bereich, noch im Kreuzbandbereich. Das hat sich in den vergangenen Jahren relativ die Waage gehalten.

Kreuzbandriss: So funktioniert effektive Prävention

Während sich beispielsweise bei Arsenal in der letzten Saison vier Spielerinnen Kreuzbandrisse zugezogen haben, war der letzte Kreuzbandriss in der Bundesliga-Mannschaft der TSG Hoffenheim der von Paulina Krumbiegel im August 2021. Was wird in Hoffenheim präventiv unternommen, um Verletzungen zu vermeiden?

Die Spielerinnen werden alle im Rahmen der Vorbereitung vor der Saison anhand standardisierter Programme, die auch die VBG nutzt, muskulär funktionell getestet. Anhand der erfassten Werte schauen wir, ob es irgendwo muskuläre Schwächen, Stabilitäts- oder Agilitätsprobleme gibt. Diese werden dann individuell aufbereitet. Durch die jährliche Testung bekommen wir zudem Vergleichswerte, die wir uns anschauen können, wenn sich Spielerinnen verletzen. Unsere Mannschaften absolvieren mehrmals in der Woche ein Krafttraining, auch vor jedem Training werden Aktivierungs- und Stabilitätsübungen durchgeführt.

Und Spielerinnen, die sehr stark belastet sind, werden aus dem Training genommen?

Genau. Die Belastung wird gesteuert, es werden täglich verschiedene Parameter abgefragt. Wie fühlt sich die Spielerin? Wie fit ist sie? Hat sie vielleicht eine Erkältung? Und unter Umständen muss man dann die Belastung entsprechend steuern. Natürlich ist das auch abhängig davon, in welcher Phase der Vorbereitung oder der Saison man sich gerade befindet.

Der Frauenfußball ist in den letzten Jahren deutlich schneller und intensiver geworden. Ist das ein Grund für die Häufung von Knieverletzungen?

Der Fußball ist tatsächlich schneller geworden. Ich denke, dass im Gegenzug aber auch das Athletiktraining, die funktionellen Testungen und der individuelle Umgang mit Prävention professioneller geworden sind. Sicherlich hat man eine erhöhte Verletzungsrate, je mehr Einsätze zu absolvieren sind. Das ergibt sich aus der Statistik. Im Männerbereich hat man aber festgestellt, dass die Verletzungshäufigkeit insgesamt abgenommen hat. Deshalb sind wir jetzt gespannt, was die Studien über die Verletzungsrate bei den Frauen sagen.

Müsste bereits im Nachwuchsbereich mehr Wert auf Athletiktraining gelegt werden, um Verletzungen zu verhindern?

Das ist auf jeden Fall wichtig. Die jugendlichen Spielerinnen haben oft eine hohe Belastung, weil sie unter Umständen in einer heimatnahen Jungen-Mannschaft und in einer höherklassigen Mädchen-Mannschaft spielen. Hinzu kommt, dass sie sich in einer Wachstumsphase befinden und sich der Körper erstmal auf das relativ schnelle Körperwachstum einstellen muss. Da kommt es häufig zu muskulären Dysbalancen. Diese müssen durch Athletiktraining gesteuert und aufgefangen werden. Deshalb ist es auf jeden Fall sinnvoll, schon in den Jugendmannschaften mit Athletiktraining zu beginnen. Wir konnten das bei der TSG Hoffenheim in Zusammenarbeit mit den Physios und den Athletiktrainern bereits etablieren.

Biologische Ursachen für häufige Kreuzbandrisse

Warum reißen sich Fußballerinnen aus medizinischer Sicht häufiger die Kreuzbänder als ihre männlichen Kollegen?


Das ist ein multifaktorielles Geschehen. Zum einen haben Frauen biologisch eine geringere Muskelmasse. Zum anderen haben sie auch eher eine X-Bein-Stellung, die das Risiko von Kreuzbandrissen begünstigt. Das Lande- und Sprungverhalten ist anders. In der Landung ist die X-Bein-Stellung besonders ausgeprägt, weil Frauen die einwirkenden Kräfte aufgrund der geringeren Muskelmasse weniger gut kompensieren und stabilisieren können. Zudem findet das Lande- und Sprungverhalten bei Frauen eher in Rücklage statt, was das Risiko einer Verletzung des Kniegelenkes ebenfalls erhöht.

Hinzu kommen anatomische Unterschiede. Frauen haben einen anderen tibialen Slope als Männer. Das bedeutet, dass die Neigung des Schienbeinkopfes eine andere ist. Auch die Notch, der Bereich, durch den die Kreuzbänder im Knie verlaufen und das Einklemmen verhindern, ist grundsätzlich schmaler. Dadurch entsteht mehr Stress. Der Menstruationszyklus, die hormonellen Unterschiede, werden ebenfalls als einer der Gründe angesehen. Außerdem wird über eine genetische Komponente diskutiert.

Und man muss natürlich sagen, dass viele Fußballerinnen auch in den ersten beiden Bundesligen keine Vollprofis sind. Eine zusätzliche Stresssituation in Studium, der Schule oder im Beruf stellt nochmal andere Anforderungen. Die Spielerinnen gehen vielleicht mit einem anderen Stresslevel in ein Training, oder sie können unter Umständen nicht in dem Maße trainieren, wie das bei den männlichen Profis der Fall ist.

Es werden immer wieder verschiedene Zahlen genannt. Um wie viel höher schätzen Sie das Risiko einer Profi-Fußballerin ein, sich einen Kreuzbandriss ohne Kontakt zuzuziehen im Vergleich zu den männlichen Kollegen?

Es ist vier- bis fünfmal höher. Die Studienlage ist tatsächlich sehr variabel, von zwei- bis sechsmal höher wird alles benannt. Das zeigt einmal mehr, dass die Studienlage im Frauenfußball noch nicht konstant ist.

Welche Rolle spielt der weibliche Zyklus bei der Verletzungsanfälligkeit?

Aufgrund der hormonellen Schwankungen besteht eine vermehrte Bandlaxizität in der ersten Zyklushälfte, in der auch vermehrt Verletzungen diskutiert werden. Wir haben festgestellt, dass einige der Verletzungen bei uns tatsächlich zu Beginn des Zyklus stattfanden. Man muss aber unterscheiden, ob die Spielerinnen Kontrazeptiva (hormonelle Verhütungsmittel, Anm.d.Red.) einnehmen, oder ob es der natürliche Zyklus ist. Jede Spielerin reagiert anders auf den Zyklus, manche sind dadurch mehr belastet und haben Beschwerden, oder fühlen sich in den verschiedenen Zyklusphasen fitter oder unfitter. Darauf nehmen wir Rücksicht und passen die Belastung an. Letztendlich muss man sagen, dass die bisherige Studienlage hierzu nicht eindeutig ist.

Ist die Belastung im Fußball zu groß?

Im vergangenen Jahr gab es nach der Europameisterschaft nur eine kurze Pause, in diesem Sommer werden zwischen WM-Finale und der ersten DFB-Pokal-Runde für die Bundesligisten nicht mal drei Wochen liegen. Ist die Belastung vor allem für die Nationalspielerinnen zu groß?

Die Belastung für die Nationalspielerinnen ist sicherlich höher als für die anderen Spielerinnen. Hinzu kommt ja, dass die Nationalspielerinnen meistens auch in den Vereinen mehr Einsatzzeiten haben als die anderen Spielerinnen. Da wir aber mit dem Trainerteam und den Physiotherapeuten sehr eng zusammen arbeiten, können wir die Belastung steuern. Wir sind deshalb auch in allen diesen Bereichen mit den Nationalteams in Kontakt.

In der Saison 2021/21 hat sich Hoffenheim für die damals neu eingeführte Gruppenphase der Champions League qualifiziert, in der letzten Saison spielte die Mannschaft nicht international. Wie groß ist der Unterschied in der Belastung für die Spielerinnen?

Die Belastung ist damals deutlich höher gewesen, es waren insgesamt zehn Spiele mehr. Dazu kam, dass viele Englische Wochen mit zwei Spielen anstanden. Die Spiele in der Champions League waren zudem mit längeren Reisen verbunden, das bringt auch immer ein bisschen Unruhe in den Tagesablauf. Das Training kann nicht normal stattfinden und muss entsprechend angepasst werden. Das ist auf jeden Fall eine größere Belastung für die Spielerinnen.

Nach der Einführung der Champions-League-Gruppenphase kommt nun für die Nationalspielerinnen noch die Nations League mit zusätzlichen Spielen hinzu. Ist das angesichts der vielen Kreuzbandrisse unverantwortlich?

Unverantwortlich würde ich es nicht nennen. Das ist sicherlich ein durchdachtes System. Aber es bedeutet natürlich, dass es mehr Spiele unter Wettbewerbsbedingungen geben wird.

Worauf muss in der Reha nach einem Kreuzbandriss geachtet werden, um die volle Leistungsfähigkeit wieder herzustellen?

Es gibt unterschiedliche Phasen. Am Anfang ist natürlich erstmal die Wundheilung wichtig. Dann die Beweglichkeit und die Ansteuerung der Muskulatur. Es muss ein ordentlicher Muskelaufbau stattfinden. Im Verlauf dessen erfolgen dann verschiedene Tests und Testbatterien, wie der "Return to Sports"- oder "Return to Competition"-Test, die auch von der VBG vorgegeben sind. Letztlich kann das sportartspezifische Training erst beginnen, wenn die Kraft vorhanden und die Muskulatur trainiert ist. Nichtsdestotrotz spielt auch die Zeit eine Rolle. Man weiß mittlerweile, dass das Kreuzband eine gewisse Zeit braucht, um vollständig einzuheilen. Da gibt es mittlerweile mit neun Monaten einen klaren Richtwert, um eine sichere Einheilung zu haben.

Wie groß ist die Chance, nach einer Kreuzbandverletzung wieder so gut wie vorher spielen zu können?

Das ist natürlich das Ziel und wünschenswert. Auch hier gibt es bei den Frauen noch nicht ausreichend Daten. Aus Studien bei den Männern weiß man, dass nur 76 Prozent der Spieler auf das Niveau zurückkommen, das sie vorher hatten. Die Erfahrung zeigt, dass Spielerinnen nach einer langen Reha - egal bei welcher Verletzung - eine gewisse Zeit brauchen, um auf ihr vorheriges Niveau zurückzukommen. Es gibt auch hier Ausnahmen in beide Richtungen, aber insgesamt lässt sich das beobachten.

Über die Expertin: Dr. Jutta Bletzer ist seit 2013 Mannschaftsärztin im Bereich Frauen- und Mädchenfußball bei der TSG Hoffenheim. Die Orthopädin und Sportmedizinerin mit der Zusatzqualifikation Fußballmedizin des DFB ist als niedergelassene Fachärztin in der Praxis Orthopädie Schriesheim im Medicum tätig.
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