Die deutsche Nationalmannschaft hat das Länderspieljahr mit einem Knalleffekt beendet. Bundestrainer Joachim Löw und sein Team gehen mit einem guten Gefühl in die Pause. Die Arbeit wird deshalb allerdings weder weniger noch einfacher.

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Die größte Wertschätzung kam vom Gegner. "Ich kann das verstehen, dass Jogi Löw seine Mannschaft nicht als Favorit bei der EM sehen will. Aber er hat schon eine sehr starke Mannschaft", sagte Nordirlands Trainer Michael O‘Neill auf der Pressekonferenz nach dem EM-Qualifikationsspiel seiner Mannschaft gegen Deutschland Mitte November.

"Schauen Sie, wie viele Spieler von ihm regelmäßig in der Champions League spielen... Ich wäre doch sehr überrascht, wenn sie keine Rolle bei der EM spielen würden", sagte O‘Neill, der mit seinem Team Minuten zuvor mit 1:6 in Frankfurt unter die Räder gekommen war. Im letzten Länderspiel des Jahres und zum Abschluss der Qualifikationsphase für die Europameisterschaft 2020 setzte das DFB-Team noch einmal ein echtes Ausrufezeichen.

Es war das spektakuläre Ende eines Jahres, das für das Flaggschiff des Deutschen Fußball-Bundes in einer Art Sinuskurve verlief, mit einigen Höhen, aber eben auch einigen Tiefen und Rückschlägen.

Das harte Minimalziel, die direkte Qualifikation für die EM-Endrunde im kommenden Sommer, war angesichts der schwachen Gegner in der Gruppe ohnehin kein zu großes Problem. Bei den vielen weichen Faktoren, die Löw und sein Trainerteam aber vorantreiben wollten und wollen, gab es aber doch das eine oder andere Problem - welches auch ins kommende Turnierjahr hineinreichen wird. Eine Bestandsaufnahme.

Das war die Qualifikationsrunde:

Hinter der Mannschaft liegt eine an sich ziemlich solide Qualifikationsrunde. Sieben Siege und eine Niederlage weisen Deutschland am Ende als Gruppensieger aus, noch vor dem Rivalen aus Holland. Besser waren nur die Italiener und Belgier, die beide jeweils ohne Punktverluste durch ihre Gruppen marschierten.

Das Torverhältnis von 30:7 zeugt ebenfalls von einer gewissen Klasse, zumal in der deutschen Gruppe keine Zwergenstaaten wie San Marino, Gibraltar, Andorra oder Liechtenstein dabei waren. Selbst in den vier Partien gegen die schärfsten Kontrahenten Niederlande (fünf) und Nordirland (acht) erzielte Deutschland zusammen satte 13 Tore. Wackelig wurde es nur nach der Niederlage gegen die Niederlande, ansonsten spulte die Mannschaft ihr Pensum ab und ist mal wieder bei einem großen Turnier dabei - das letzte und zugleich auch einzige Mal überhaupt verpasste eine deutsche Mannschaft ein Großereignis vor 51 Jahren.

Das war gut:

Seit dem Frontalcrash bei der WM 2018 bastelt der Bundestrainer an einer veränderten Ausrichtung und Spielidee seiner Mannschaft. Schneller und vertikaler soll das Spiel angelegt sein, die Mannschaft dafür insgesamt auch etwas tiefer stehen und mehr über Umschaltmomente nach vorne kommen. Das ist eine schöne Theorie, die mit der Praxis aber nur in vereinzelten Fällen etwas zu tun hat. Denn: Wie kontern, wenn der Gegner den Ball gar nicht haben will?

Löws Mannschaft hatte ein paar Probleme, das Beste aus zwei Welten zusammenzufügen. Den "alten" Ballbesitz- und Positionsspielstil in Einklang zu bringen mit den überfallartigen Gegenstößen - bei gleichzeitig seriöser Torsicherung. Aber so langsam entwickelt sich eine gute Symbiose. "Ich finde es langsam nervig, immer noch vom Umbruch zu sprechen. Ich denke, wir zeigen sehr guten Fußball. Wir haben eine junge Mannschaft und legen gute Performances hin", sagte Serge Gnabry nach dem Nordirland-Spiel, durchaus ein wenig genervt vom viel zitierten "Umbruch".

Aber der findet oder - nach Gnabrys Lesart - fand definitiv statt. Deutschland ergeht es dabei wie anderen großen Nationen auch, den Engländern, Franzosen, Niederländern, Italienern, nur dass dieses Quartett nun schon eine Spur weiter zu sein scheint. Der Weg ist allerdings der richtige, so viel steht fest.

Das war schlecht:

Aus sportlicher Sicht gab es aber auch einige Durchhänger. Der fehlende Killerinstinkt der Mannschaft, der sich gerade in den Spielen gegen größere Gegner zeigte. Die Niederlagen in der Nations League gegen die Niederlande und Frankreich ließen schon im letzten Jahr Zweifel aufkommen, die nach dem kurzen Hoch des Auswärtssieges in Amsterdam spätestens im Frühherbst wieder aufkeimten: Deutschland schaffte es einfach nicht, eine Partie gegen einen Gegner auf Augenhöhe sauber und konzentriert zu Ende zu spielen.

Im Test gegen Argentinien wurde eine 2:0-Führung noch verspielt, die zweite Halbzeit gegen Oranje in Hamburg verlor Deutschland nach einer 1:0-Führung sogar mit 1:4. Der Ausfall aller Systeme gegen die Niederlande war ein Warnschuss und ein Fingerzeig: Spätestens in der möglichen K.o.-Phase bei einem großen Turnier werden Fehler dieser Art gnadenlos bestraft.

Ein Dauerproblem und -thema bleibt die Defensive und ihre Besetzung. Nach den Demissionen von Jerome Boateng und Mats Hummels bleibt nur ein sehr kleiner Kreis von Spielern, die jetzt schon das Format für höchste internationale Ansprüche mitbringen. Deutschland verfügt in diesem Segment - anders als im Mittelfeld und in der Offensive - (noch) nicht über die individuelle Klasse anderer Nationen.

Dazu gab es immer wieder Störfeuer um die Mannschaft herum. Die Ausbootung des Weltmeister-Trios hallt bis heute nach und wird ein Thema bleiben. Die fortschreitende Entfremdung der Fans ebenfalls. Früher war die Nationalmannschaft mal des Deutschen liebstes Kind, Spieltage waren Festtage.

Mittlerweile rufen Partien der DFB-Auswahl bei einem nicht unbeträchtlichen Teil der Fans kaum mehr als ein Schulterzucken hervor. Trotz aller Bekundungen von Teammanager Oliver Bierhoff bleibt die Kluft zwischen Fans und Mannschaft groß, die Ticketpreise teilweise stabil horrend, die Anstoßzeiten kinderunfreundlich und das Drumherum aufgebläht und wenig authentisch.

Senkrechtstarter und Hoffnungsträger:

Serge Gnabry ging förmlich durch die Decke. Der Angreifer hat jetzt 13 Tore in 13 Länderspielen erzielt, so gut war bisher nur der Bomber höchstselbst, Gerd Müller. Gnabry ist "gesetzt", wie Löw es formuliert und im Angriffszentrum sogar noch besser aufgehoben als auf dem Flügel. Joshua Kimmichs Platz im DFB-Dress muss im Mittelfeld bleiben, hier kann der Münchener der Mannschaft am besten helfen und seine Stärken voll entfalten.

Leon Goretzka gab der Mannschaft eine wichtige Komponente, wenn er ohne direkten Gegenspieler und mit Tempo in oder an den gegnerischen Strafraum nachrückte. Und Toni Kroos - neben Manuel Neuer der letzte verbliebene Stammspieler der Weltmeistermannschaft von 2014 - unterstrich zuletzt seinen besonderen Wert für die junge Truppe.

... und die Sorgenkinder:

Ebenfalls große Hoffnungsträger sind eigentlich Leroy Sane und Niklas Süle. Aber beide laborieren an schwerwiegenden Verletzungen und es ist nicht klar, ob die Zeit bis zum Turnier reicht. Sane hat dabei bessere Chancen als Süle, der Angreifer ist ein echter Unterschiedspieler und der beste Tempodribbler im Team und wäre bei der EM ein sehr wichtiges Puzzlestück.

Süle wäre als Abwehrchef gesetzt, fällt er aber wie erwartet aus, dann gibt es in der Innenverteidiogung ein echtes Problem: In Antonio Rüdiger und Thilo Kehrer waren die designierte Nummern zwei und drei nach Süle ebenfalls lange verletzt und die Alternativen mit Matthias Ginter, Jonathan Tah oder Niklas Stark für höchste Ansprüche noch nicht gut genug. Zuletzt musste sogar Mittelfeldspieler Emre Can als Innenverteidiger aushelfen.

Zwei Fragezeichen bleiben hinter Marco Reus und der leidigen Torhüterdebatte. Reus kommt im DFB-Dress einfach nicht so richtig ins Laufen, dabei wären die Fähigkeiten und die Erfahrung des Dortmunders Gold wert. Und obwohl Löw sich mehr oder weniger klar auf Neuer als Nummer eins festgelegt hat, dürften diese Diskussionen auch im kommenden Jahr nicht versanden.

Wie geht es weiter?

Die Basis ist gelegt, jetzt geht es langsam an die Feinheiten, verbunden mit der Hoffnung auf die Rückkehr einzelner, wichtiger Spieler. In der Defensive darf nicht mehr viel passieren, jeder weitere Ausfall wäre im Hinblick auf die ohnehin schon angespannte Personallage ein schwerer Rückschlag.

In der Offensive und im Mittelfeld ist das Angebot dagegen üppig. Bis zum ersten EM-Spiel bleiben dem Bundestrainer nur noch wenige Testspiele, teilweise unmittelbar vor dem Turnier.

Echte Härtetests stehen Ende März gegen Spanien und Italien an. Diese beiden Spiele sind von enormer Wichtigkeit: Vor der verpatzten WM ließ es die Mannschaft damals in den Vergleichen gegen Spanien und Brasilien schleifen - und bekam dann im Turnier die Kurve nicht mehr.

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